Ho Lin Wan* begegnete mir in diesem Leben erstmals 1995 in einer Trance. Zu viel Blümchenkaffee und Doxycyclin. Ich war mit einer fortgeschrittenen Borellien-Infektion (Zeckenbiss) direkt von der Open in St. Andrews in die Hautklinik der Uni Gießen verfrachtet worden und die Ärzte rangen um meinen Verstand.
Ein Zimmer mit Blick ins Grüne. Neben dem alten Lederohrensessel stand ein kleiner Tisch. Während der zehn Tage am Doxycyclin-Tropf liebte ich es, hier zu sitzen. Schon seit Jahren hatte ich mir Notizen über meine Erfahrungen beim Golfen gemacht. War es nicht endlich an der Zeit, diesen seltsamen Sport aus der Sicht eines Laien zu betrachten? Während ich von Zeit zu Zeit von meinem Ohrensessel aus in den Park schaute, sah ich vor meinem inneren Auge immer wieder diese Bilder von hohen Bergen unter einem dunklen Himmel. Tibet?
Ein eigenartiger Geruch von Yakdung zog mir in die Nase, als plötzlich eine Gestalt in meinem Bewusstsein auftauchte, die sich mit Ho Lin Wan vorstellte. Er meinte, ich sei Lobsang Dzong, und fragte mich ziemlich unverblümt, warum ich unser Match vermasselt hätte. Ahnungslos, was die Details meiner früheren Inkarnation angeht, war ich reichlich verwirrt.
Es ist signifikant für Golfer, wenn zwei Stimmen um die Herrschaft im Bewusstsein kämpfen. Tim Gallwey beschreibt dieses Phänomen ausführlich in seinem Buch »Inner Game Golf«. Für einen einigermaßen normalen Menschen, der von diesem ganzen übersinnlichen Kram keine Ahnung hat, ist es jedoch nicht leicht zu akzeptieren, wenn plötzlich ein schlecht gelaunter Tibeter im eigenen Kopf auftaucht. Ich schloss also die Augen, zählte eins, zwei, aber Ho Lin Wan war nicht weg. Er stellte sich breitbeinig in meine Aura, meinte, er sei mein alter Golfkumpel aus Tibet, und begann, mir meine Geschichte zu erzählen:
Wir waren beide Mönche in einem Kloster der medizinischen Fakultät von Lhasa und ziemlich auf Golf abgefahren, das wir von den Engländern kannten, die vor den Toren unserer Stadt spielten. Wir hatten noch einen Gefährten, Lobsang Rampa, der Jahre später nach England flüchtete, dort Apotheker wurde und darüber ein paar Bestseller schrieb*. Es gab nur uns drei Golfmönche in Lhasa und wir waren ein gutes Team. Mit der Zeit galten wir als die Nationalmannschaft von Tibet, denn es gab sonst niemanden.
Bei einem Spiel gegen einige Mönche eines chinesischen Klosters der »Tao Yin«-Tradition, zu dem wir uns an unserer nördlichen Grenze trafen, habe ich, wie mir Ho Lin erzählte, gewisse Regeln missachtet. Ich schlug meinen Ball, ohne die vorgeschriebenen Gebete und Verneigungen zu verrichten und zudem noch out of bounds über die Grenze nach China hinein. Ich traf den chinesischen Offizier mit meinem Yakdungball mitten in die Gosch. Die Schande war groß. Wir verloren das Match, der Offizier sein Gesicht und der Dalai Lama war blamiert, womit seine Position gegenüber Peking zu wackeln begann. Diese Provokation einer »imperialistischen Mönchsnomenklatura« konnte von den Chinesen natürlich nicht hingenommen werden und Scharmützel an der Grenze begannen, bei denen ich übrigens bald darauf erschossen wurde. Der Rest ist Geschichte.
Es ist nachträglich gesehen ein saudummes Gefühl, dass das eigene Land überrannt und geknechtet wird, nur weil man einen Ball nach rechts verzogen hat. Wirklich dumm. Tut mir Leid, Leute. Aber die Chinesen lauerten schon seit Jahren hinter der Grenze und haben nur darauf gewartet, dass ein Ball rüberfliegt, damit sie endlich einmarschieren können. Also, was soll’s.
In vielen vergangenen Leben hatte ich (so glaubte ich zumindest) genügend gutes Karma angesammelt, um im buddhistischen Sinne einem letzten Anhaften gemäß, als zukünftiger OPEN-Sieger in Schottland wiedergeboren zu werden.
Stattdessen bekam ich die karmische Höchststrafe: Ich wurde als Deutscher wiedergeboren und musste für Jahre als clubfreier Golfer mit mittlerem Handicap in der Hölle schmoren – bis mich die Zecke biss!
Während die Ärzte ihre Geschütze gegen die Borrellien auffuhren, begann ich dieses Buch zu schreiben. Ho Lin Wan half mir immer wieder, mich beim Schreiben auf die frei schwingende Zentrifugalebene zu transponieren. Dafür sei ihm herzlich gedankt.
Die Golfderwische von Tao Yin
Wenn ich an Ho Lin Wan denke, überfluten mich Erinnerungen an meine alte Heimat, lebhafte Bilder aus einem vergangenen Leben, eindringliche Farben, der leuchtende Himmel Tibets. Die Linghorstraße raus, Richtung Dechen Dzongnen Dzong, stand das Haus meiner Eltern. Wir liefen als Kinder durch halb Lhasa Richtung Norbu Linga. Wir hatten einen Platz im Juwelenpark, wo wir mit kaputten Schlägern übten, die uns einige Langnasen überlassen hatten. Der Blick von dort zum Potala war atemberaubend.
Der Golfplatz Lhasa wurde, wie alles andere auch, während der chinesischen Kulturrevolution zertrampelt, aber einige Golf-Mystiker besuchen diesen Platz nach wie vor. Anhand der alten Lagepläne kann man sehen, dass unser 9. Loch gerade dort lag, wo jetzt die Kassen einer chinesischen Supermarktkette stehen. Hier wird kein Golf mehr gespielt, aber nachts im freien Feld ziehen immer noch stumme Gestalten auf der endlosen Suche nach ihrem Yakdung-Ball über die imaginären Fairways zwischen Nomadenzelten und Stupas. Sie murmeln:
Gate, Gate,
Ball weg,
Rechts raus
Irgendwo im Fluss.
Seinen Weg gehen, den Weg gehen (Sanskrit: Gate) ist eine uralte Metapher aus dem Buddhismus und esoterischen Taoismus. Der historische Gautama Buddha wurde auch als der Tathagata (Sanskrit: der So-Gegangene) bezeichnet.
Der, der diesen Weg ging – der nicht zu benennen ist, wie Laotsesagt. Das Abschreiten eines Golfplatzes, das ständige Kreisen über die gleichen 18 Bahnen ist ein Ritual fernöstlicher Tradition, wobei der Wechsel der Natur in den Jahreszeiten die Wandlung der Dinge symbolisiert. Der Buddha sieht die Ursache allen Leidens im Anhaften. Dies führt zu endlosen Wiederverkörperungen.
Wir sehen die Ursache allen Leidens darin, dass wir den Kopf nicht unten lassen und nicht genügend durchschwingen. Das führt zu endlosen neuen Runden des Leidens. Das Loslassen, das Nichtanhaften im buddhistischen Sinne, gelingt im Golfsport nur mit Hilfe einer Gemeinde (Sangha), die ich bei den Anonymen Golfern fand.
Die Zehn, in der kabbalistischen Mystik die Zahl der Unendlichkeit, wird mit der Acht, der heiligen Zahl der Buddhisten, vereinigt. Der achtfache Pfad und die Unendlichkeit. Die Vision der Vereinigung des euroarabischen Kulturraumes mit der Weisheit des Ostens ist in exoterischen Fragmenten heutzutage in der European Tour erkennbar, die im Fernen Osten beginnt und über Arabien und Nordafrika nach Europa kommt. Das Kreisen der 18 Pfade in die Unendlichkeit drückt auch den Reinkarnationsgedanken deutlich aus.
Das Instant-Karma im Golf gibt unerbittlich sofortiges Feedback auf Handlung und Gedanken. Das ständige Bedürfnis, zum Club zu fahren, um wieder und wieder die »Runde« zu gehen, erinnert an die Seele des Menschen, die sich immer wieder neu verkörpern muss. In der Bergwelt des Himalaja umschreitet der Gläubige die Stupa, eine runde Felsansammlung oder einen Turm, der mit Fahnen und Symbolen des Glaubens geschmückt ist – OM MANI PADME HUM murmelnd – den Blick zu Boden gerichtet, was aus der Zeit stammt, als dabei tatsächlich noch Bälle gesucht wurden. Diese spärlich erhaltenen Fragmente früher golferischer Tradition des Buddhismus sind noch um Lhasa, aber auch in Kathmandu und an manchen Orten in Sikkim und in Bhutan zu beobachten.
»Gate, Gate
so gegangen
findet der Weise
seinen Weg.«
Der Hintergrund fernöstlicher Golflegenden sind die in esoterischen Kreisen bekannten Geschichten von den wirbelnden Golfderwischen von Tao Yin. Sie lebten vor über tausend Jahren nördlich der Provinz Kham in einem verborgenen Seitental des tibetischen Hochlandes, das Shambhala genannt wurde.
Von dort gelangte der »Weg der weißen Kugel«*, der dem Buddha Amitaba geweiht ist, in das heutige Sikkim und Bhutan und dann nach Boulder, Colorado. Das Spiel ist in diesen Hochgebirgsregionen, wo der Ball unglaublich weit fliegt, sehr schwierig. Deshalb wurde mit einem Leichtball aus gepresstem Yakdung gespielt. Es ist vermutlich vollkommen müßig, ungläubigen Langnasen zu erzählen, dass wir damals Yetis als Caddys hatten, die allein durch ihren feinen Geruchssinn in der Lage waren, die Yakdungbälle wiederzufinden. Das Golfspiel war ein Akt der Meditation und der Reinigung. Eine Runde zog sich über Monate hinweshalb es sinnvoll war, in diesen klimatisch extremen Bedingungen mit Zelten, Yaks, Köchen und allem zu reisen, was man in der Einsamkeit der Bergtäler brauchte.
Die Yetis hielten sich fern, tauchten aber immer auf, wenn sie gebraucht wurden, und fanden den Yakdungball auch in irgendeinem Seitental in 5000 Meter Höhe. Dafür ließen sie sich gerne abends Lieder vorsingen, weil sie selbst nicht singen konnten. Sie liebten Weihnachtslieder. »Stille Nacht« und »Ihr Kinderlein kommet«, Gassenhauer in Lhasa und jedem Mönch bekannt, waren besonders beliebt. Die Yetis wurden nach einem Weihnachtslied bisweilen etwas melancholisch, ansonsten waren sie friedlich und verfilzt wie wir. Aber sie spielten selbst kein Golf.
Die wirbelnden Schwungtechniken der Meister von Tao Yin,
die auf der zentrifugalen Bewusstseinsebene entwickelt wurden,
beeinflussen bis heute den Golfsport.
Tai-Chi- und Chi-Gong-Übungen fördern die Balance der inneren Achse, um die der Schwung rotiert. Ich hatte in meiner Jugend die Gelegenheit, unter Anleitung des Tai-Chi-Meisters Gia Fu Feng einige Formen zu üben, die mir halfen, mein Gefühl für meine Mitte zu entwickeln. Diese Übungen sind gut für Körper und Geist. Eine Tanzvorführung des Meisters Al Huang zeigt Balance, Harmonie und Konzentration in höchster Formvollendung.
Die Fähigkeit zur Entwicklung der Konzentration sowie meditative Erfahrungen, wie sie in westlichen Yogaschulen gelehrt werden, haben Golfer von jeher angezogen. Gia Fu Feng – wie auch später Al Huang – arbeiteten Jahre in dem berühmten Esalen Institute, Big Sur, in Kalifornien.
Tim Gallwey erwähnt diesen Ort im Zusammenhang damit, dass er einen der Gründer dieses Institutes, Michael Murphy, zum Golfspiel trifft. Murphy, der Verfasser von Golf und Psyche, erzählte ihm, dass die Konzentration von Nicklaus oder Hogan ihn an die Fähigkeiten großer Yogis erinnere: »Ich habe Hogan oft beobachtet und kann sagen, dass er eine starke Aura hatte, die von vielen im Publikum gespürt wurde. Ich erinnere mich, wie jemand erzählte, dass während der US Open 1955 fast jeder, der ihm (Hogan) zuschaute, das Gefühl hatte, hypnotisiert zu sein. Die Luft um ihn herum konnte man mit dem Messer schneiden. Ohne es zu wissen, war er für die fünftausend Zuschauer, die mit ihm liefen, wie eine Art Meditationslehrer.“
Wo war ich? Ach ja! Tao ist die traditionelle Bezeichnung für den Weg im Laotse’schen Sinne. Der chinesische Philosoph Laotse hat unter dem Titel Tao Te King (übersetzt: Weg des Kings), die erste Elvis-Presley-Biographie schon vor fast 3000 Jahren geschrieben.
Yin ist in seiner Urbedeutung das Wolkige, Trübe. Es bezeichnet die zentrifugale Kraft im Universum, der Gegenpart Yang die zentripetale Kraft. Zusammen symbolisieren sie das duale Prinzip. Himmel und Erde, männlich und weiblich, Plus und Minus, Ball und Schläger, in ihrem ewigen Wandel. Die Erkenntnis vom Lauf der Dinge (was Laotse als Sinn, Weg, oder Tao bezeichnet) führt uns zu unserer inneren Mitte, jenem Dreh- und Angelpunkt, um den sich das Golfspiel dreht. Diese Erkenntnis vom ewigen Gesetz der Wandlung hilft uns das anzunehmen, was uns im Spiel wie im Leben begegnen wird.
Vermutlich wird es den Leser besonders interessieren, dass es schon in den Wendezeiten der Tsin- und Han-Dynastien eine ganze Schule der Yin-Yang-Lehre gab, die »damals viel Aufsehen erregte«. Der Grundgedanke ist die Wandlung.
Wie soll Meister Kung gesagt haben, als man ihm von den Einnahmen des Proshops im Kloster Tao Yin berichtete:
»Alles fließt dahin,
wie dieser Fluss,
Tag und Nacht.«
Tao Yin bezeichnet den Weg der Zentrifugalkraft. »Swing the Clubhead«, wie der Golflehrer Ernest Jones sein Lehrbuch nannte. Die wirbelnden Golfderwische kannten diesen in drei Disziplinen: im Tanzen, der Steinschleuder und in der oben beschriebenen Form des Golfens. Den Begriff Derwisch, der aus dem islamischen Kulturraum stammt, habe ich der Einfachheit halber übernommen. Wie Derwische erleben auch siegreiche Ryder-Cup-Spieler ekstatische Bewusstseinsstufen der Verzückung durch ununterbrochenes Drehen und Tanzen auf dem Grün. (Olazabal!)
Der Geist der Derwische wirkt aber auch in jenen Golfern, die den Ball rechts ins Rough schlagen und dann links im Semirough suchen, weil das Gras dort kürzer und der Ball somit leichter zu finden ist. Ihr Verhalten wird von archetypischen Erinnerungen des kollektiven Unterbewusstseins gesteuert (vgl. C. G. Jung) und erinnert an den berühmten Derwisch Nasruddin, der trunken vom Tanze heimkommt und seinen Schlüssel nicht findet. Er sucht aber nicht im Dunkel, dort wo er seinen Schlüssel verloren hat, sondern da, wo der Mond hinleuchtet … weil er da besser sieht.
(ep)
Fußnote
„Im Frühjahr 1998 bestellte ich mir mehrere Bücher über die spirituellen Aspekte des Golfsports, darunter auch Michael Murphys »Golf in the Kingdom«. Wochen später erfuhr ich von einem Bekannten, dass dieses Buch unter dem Titel »Golf und Psyche« erschienen war. Zu dieser Zeit schenkte mir der Maler und Dichter Theo Köppen aus Göttingen den Mitschnitt eines Vortrags, den der amerikanische Zen-Meister Richard Baker Roshi in der Nähe von Kassel gehalten hatte. Zufällig, in einer Lesepause von Murphys Buch, stellte ich den Kassettenrekorder an, und das Band begann exakt an der Stelle, an der Baker Roshi (in einem ansonsten vollkommen golffreien Vortrag) erzählt, wie er von Michael Murphy eingeladen war, um der Präsentation von Murphys neuem Golfbuch »Shivas Irons« beizuwohnen. Murphy hatte einige Aspekte und Gedanken seines mystischen Golfgurus Shivas Irons im Gespräch mit Baker Roshi entwickelt und wollte ihm mit dieser Einladung seinen Respekt erweisen. Nach der gelungenen Präsentation saß die Gesellschaft beim Dinner zusammen und Baker Roshi lernte Scott McCarron kennen. Dieser (damalige) Spitzenspieler der US-PGA-Tour erzählte ihm, dass er aufgehört hat, irgendwelche Technik zu üben. Die Stille des Geistes in seiner Pre-Shot-Routine sei seine Methode, um den perfekten Rhythmus im Schwung zu realisieren, um »in the zone« zu kommen, wie Profigolfer diesen frei schwingenden Zustand von Körper und Geist bezeichnen. Er erzählte von Übungen, die Baker Roshi sofort als klassische Zen-Übungen erkannte, von denen der Pro wiederum bis dato nie gehört hatte. Interessant, nicht?„
Auszug aus Der Weg der weißen Kugel (c) by Eugen Pletsch, 1995