Die 23

Auszug aus „Golf- Gaga – der Fluch der weißen Kugel„. Der Kellner Etbin und Dagobert Seicht sind zwei Figuren, die in meinen Büchern mehrfach auftauchen…

Es war viel zu heiß, um zu spielen. Wer an diesen Tagen spielte, hatte einen Schatten. Auch auf der Clubterrasse, wo sonst eine sanfte Brise wehte, war die Luft wie gebacken. Die Sonne prallte von den weißen Wänden des Clubhauses, weshalb ich es an solchen Tagen vorzog, mir im Restaurant ein kühleres Plätzchen zu suchen.

Etbin, der Kellner, trug wie immer ein weißes Hemd zur Weste und schwarze Hosen. Ihm schien die Hitze nichts auszumachen. Er ruhte regungslos im Schatten, aber in dem Moment, in dem ich Platz genommen hatte, stand er bereits mit einer großen Flasche Mineralwasser im Cooler neben mir. Er wusste, was ich bei diesen Temperaturen zu trinken pflegte. Etbin hatte etwas Katzenhaftes, er schlich. Man hört ihn nicht, er bewegte sich wie ein Samurai.

Ich trank mein Wasser und war in Gedanken, als sich Dagobert Seicht näherte. Wir grüßten uns, seitdem ich wieder häufiger in Bauernburg verkehrte, aber der gütige Herr hatte mir das gemeinsame Spiel bisher erspart. Vermutlich hatte die Sekretärin teuflische Angst vor dem, was passieren könnte, wenn zwei besserwisserische Korinthenkacker aufeinandertrafen.

Als wenn nicht genug andere Plätze frei wären, trat Herr Seicht an meinen Tisch und fragte: »Gestatten?« Ich schaute beiläufig auf und nickte, was weder herzlich noch höflich war, aber Seicht nicht abzuhalten schien, sich zu setzen. Er schwieg. Etbin brachte Seicht seine Zitronenlimonade. Ich schwieg auch. Wir schwiegen beide.

Wenn zwei Personen, die den leeren Raum des Universums in wenigen Stunden mit Sprechblasen ausfüllen könnten, einander anschweigen, dann entsteht eine gewisse Spannung. Etwa so, wie wenn ein von Sprechblasen ausgefülltes Universum kurz davor ist, den Urknall zu zelebrieren.

Ich schwieg, Seicht schwieg. Ich spürte, wie auch die wenigen Gäste an den anderen Tischen still wurden. Tiefe Stille. Nur der Koch klapperte in der Küche.

Ein großer Sumsemann, eine Hummel oder Hornisse, flog durch die offene Verandatür in den Raum. In der Stille klang das Brummen wie ein Moped in einer spanischen Nacht.

HnnnnnnmmmmmmmHnnnnHnnnnjääännnnnnggggggzzzzzzzzm ….

Das Geräusch kam näher. Offensichtlich hatte der Sumsemann Seichts Zitronenlimonade auf dem Radar. Wir saßen beide da und schwiegen. Die Gäste im Raum schauten fasziniert zu.

Die Szene vom Showdown zweier Verbal-Pistoleros.

Sumsemann umflog mich, wechselte zu Seicht, konnte sich nicht entscheiden und landete auf meinem Haar, was mir ausgesprochen unangenehm war. Ich verharrte regungslos. Jetzt Angst zeigen, wäre unmöglich gewesen. Ich hatte mir bei manchem Turnier schier in die Hosen gemacht, mit angstvoll zitternden Händen Zehn-Zentimeter-Putts vorbeigeschoben, jetzt blieb ich standhaft.

Sumsemann krabbelte auf meinem Haar. Mein Kopf war der Mond, auf dem das Raumschiff landete, um den Planeten auszuspähen. Der Planet war unser Tisch, auf dem die Zitronenlimonade stand. »Sumsemann«, dachte ich, »es gibt noch ein zweiten Mond, der näher am Planeten steht, mach die Flatter!«

Sumsemann hatte sich in meinem Haar verhakelt. Ich kannte das aus dem Kino. Der Trabant wird angebohrt, um eine Beobachtungsstation zu errichten. Seicht hob sein Glas, um einen Schluck aus seiner Limonade zu nehmen. Ich versuchte unmerklich, mit dem Kopf zu schütteln. Sumsemann schien festzusitzen, aber plötzlich hob er ab. Vielleicht sah er in seinem Insektenradar, dass sich sein Beuteobjekt vom Planeten zum anderen Trabanten verschoben hatte.

Sumsemann ging im Steilflug zum Angriff über und nahm das Glas ins Visier, aus dem Seicht gerade trank. Dessen Reaktion war abrupt. Das Glas mit der rechten Hand am Mund, hob er den Kopf und versuchte mit der linken Hand nach Sumsemann zu wedeln, wobei er den Kopf zurückkippte und ihm sein Gesöff über die Backen schoss.

»Ahhhhgggggrrr …«

Aber Sumsemann konterte mit: »HnnnnnnmmmmmmmHnnnnHnnnnjääännnnnnggggggzzzzzmmm ….

»Ahhhhgggggrrrgggggnnnnn …« Seicht wedelte mit den Armen, das Glas zerschellte am Boden, als ich merkte, dass er offensichtlich ein Eisstück in die Luftröhre bekommen hatte. Sein Kopf war immer rot, seine Augen standen immer vor, aber an seinem Röcheln erkannte ich, dass etwas nicht stimmte.

Ich saß etwas ungünstig, aber ich holte mit dem rechten Arm weit aus und schlug dem armen Seicht mit Wucht auf den Rücken, wobei ihm ein Eisbröckchen aus dem Mund sprang. Im selben Moment hatte der flinke Etbin den Sumsemann mit einem Schlag erlegt. Mit beiden Händen gleichzeitig frei in der Luft erwischt. Es war eine Hornisse. Keine Zeit zum Stechen. Sofort tot. Ich betrachtete das bisschen Insektenmatsch auf den harten, schwieligen Händen des Kellners. Seicht rang um Atem und Fassung. Wir dankten Etbin für seinen Einsatz. Der nickte und verschwand.

»Vielen Dank, das war knapp«, sagte Seicht.

»Kein Thema«, erwiderte ich kurz.

Er blickte auf seine Uhr. »17 Uhr 23. Na klar! Typisch.«

»Was ist typisch?«

»Der Versuch mich umzubringen, 17 Uhr 23, verstehen Sie?«

»Äähhh – nein? Sollte ich?«

»Na, die 23. Müssten Sie doch kennen«.

Seine Stimme wurde leiser.

»Sie wissen doch was ich meine, die D r e i u n d z w a n z i g!«, -wisperte er. »Sie haben das doch alles in Ihrem Buch drin!«

»Wie bitte?«

»Na, hören Sie mal, ich weiß doch wer Sie sind. Sie haben doch dieses Buch geschrieben. Sie sind doch der Autor von ›Der Fluch der weißen Kugel‹?« Ich schaute ihn wohl ziemlich fassungslos an und er fuhr fort. »Das ganze Buch ist doch codiert. Ich habe im Internet Geschichten darüber gelesen und dann recherchiert. Ich bin auch ein Eingeweihter, wissen Sie. Wir können offen sprechen. Ich habe alles herausgefunden.«

»Was herausgefunden?«

»Na zum Beispiel die Geschichte vom ›Golf auf anderen Planeten‹, die deutet doch an, dass sich die Erde bald über außerirdischen Besuch freuen darf, was im letzten Kapitel noch einmal bestätigt wird. «

Seicht öffnete seine Kladde, die auch einige ausgedruckte Texte enthielt.

»Ich darf mal aus einem Newsboard zitieren:

›Also dann, am 23.5. um 11 Uhr‹, ruft mir Mulligan zu. So steht es in der aktuellen Ausgabe, aber in der ersten, mittlerweile verschollenen Originalschrift wurde das exakte Datum der Landung Außerirdischer mit dem 23. 5. 2001 angegeben!

Der Magnat im Kapitel ›Alte Golfclubs‹ wird als jener Adam Weishaupt identifiziert, der am 1. Mai 1776 den Geheimbund der Illuminaten und 1906 den Deutschen Golfverband gründete.

Auf S. 230 (23 und 0!) schreibt er: ›(…) und Sie beginnen, sich für das Geheimnis zu interessieren.‹ Welches Geheimnis meint er, fragen sich manche Leser. Die ›18 Bahnen des Golfsports‹ (S. 226) erklärt der Autor in einem buddhistischen Kontext, was von Verschwörungstheoretikern eindeutig als falsche Fährte angesehen wird, die der Autor legen musste, weil er ahnte, dass er als Medium bereits zu viel verraten hatte. Das Kapitel ›Ein letztes Geheimnis‹, das Golf als Geschicklichkeitsspiel beschreibt, wirkt trivial, gibt aber den Hinweis, dass es ein letztes Geheimnis gibt!«

Seicht schaute mich erwartungsvoll an. Ich schaute zurück.

»Und? Was hat das mit der 23 zu tun?«

Seicht holte tief Luft. Verschwörerisch beugte er sich zu mir.

»Ich weiß doch, in welchem Club ich bin. Ich weiß doch, was der Manni Mulligan treibt. Was meinen Sie, warum ich hier bin? Das Mysterium des Golf enthüllt sich durch die 23. Und wenn es Eingeweihte gibt, dann hier. Ich verstehe nicht, warum Sie so tun, als würden Sie das alles das erste Mal hören?«

»Weil ich es das erste Mal höre. Aber was hat das Mysterium der 23 mit dem Golfsport zu tun?«

»Bobby Jones hat 1923 sein erstes Major, die US Open, gewonnen. Der Golfclub Magdeburg wurde 1923 gegründet. Die erste Swiss Open fand 1923 statt. Miriam Burns gewann 1923 die Women‘s Western Golf Championship im Alter von 23 Jahren! Die Bonzo Dog Zigarettenkarte von 1923 wurde gerade bei ebay für 23,95 versteigert.«

Er schaute mich triumphierend an.

»Ein Birdie und ein Par an einem Par 3 ergibt kabbalistisch eine 23! Unser Platz hat ein Par 72. Drei unter Par, eine 69, ist dreimal 23, klar? Ein reguläres Par 5, aus dem Blickwinkel der Tarotkarte des »Gehenkten« (Bahn vom Grün zum Abschlag betrachtet) besteht aus zwei Putts und drei Fairwayschlägen, das gibt: 23. HA! Die Quersumme aller Golfbälle der Welt ist 23, was auch dem traditionellen Loft eines Eisen 3 entspricht.«

Dagobert Seicht blickte mich mit seinen vorstehenden Augen an. Seine dünnen Künstlersträhnen waren am Schädel angeklebt. Er schnupperte mit der Nase wie eine Ratte. In dem Moment dachte ich, er sei irregeworden.

»Sie schauen mich an, als würden sie denken, ich sei irregeworden. Na gut, was halten Sie hiervon: Der große Förderer dieser Golfanlage, unser Magnat Senator Grösius, behauptet, er würde am 23.10.2006 sterben. 18 gespielte Bahnen und danach fünf Hefeweizen ergibt?«

»Schon klar: 23!«, kam ich ihm zuvor.

»Na, sehen Sie.« Jetzt schaute er mich gütig an, als hätte ich irgendetwas verstanden.

»Gut«, sagte ich, »und was bedeutet das alles für Sie?«

»Ich kann Ihnen das zusammenfassend vortragen.«

Er schlug seine Kladde auf, blätterte einen Moment und fand dann die gesuchte Seite. Seicht begann:

»Golf ist ein Virus, der zu schweren Suchterscheinungen führt und dabei ist, das Wirtschafts- und Kulturleben auf diesem Planeten nachhaltig zu zerstören.

Die Außerirdischen sind bereits gelandet, haben Präsident Kennedy ermordet und übernahmen die Regierung der USA. Natürlich auch die Wallstreet. Diese außerirdischen Plünderheuschrecken, die von einem kleinen Planeten in der Nähe des Sirius stammen, überfallen seitdem ein Land nach dem anderen mit dem Ziel, das Wirtschafts- und Kulturleben auf diesem Planeten zu zerstören.

Die einzige Schwäche, die Plünderheuschrecken haben: Sie spielen gerne Golf (amerikanische Präsidenten!) und sie sind nicht immun gegen den Golfvirus, was eine Chance birgt, den Planeten zu retten, denn Golf macht süchtig, dann blöde und dann depressiv. Damit könnte man sie schlagen. Wir sind nicht alleine. Von irgendwoher kommt Hilfe.«

»Sehr interessant«, sagte ich.

»Nun, was halten Sie davon, Sie haben doch das Buch geschrieben!«

Plötzlich kam mir eine Idee.

»Dagobert, ich darf Sie doch Dagobert nennen?«

Er nickte erwartungsvoll.

»Ein Schlüsselroman ist verschlüsselt, sonst wäre es kein Schlüsselroman.« Ich schaute ihn freundlich an. »Es gibt Mysterien und Geheimnisse, die sich um das Golfspiel ranken. Kennedy und die Monroe sind die beiden bipolaren Koordinaten. Die YabYum-Energie der beiden bekanntesten Amerikaner ihrer Zeit verbannte schreckliche Kräfte in den unterirdischen Gewölben des Pentagon. Beide wurden ermordet. Das Biest wurde entfesselt. Seitdem regiert das große Tier und überzieht die Welt mit Krieg. 666 … Sie wissen schon.«

Ich spürte, wie es Seicht schauderte. Er war dem Geheimnis auf der Spur.

»Ein Schlüsselroman hat einen Schlüssel«.

Er nickte.

»Der ist verborgen«.

»Wo?«

Etbin näherte sich unserem Tisch.

»Etbin, zahlen!«, rief ich, worauf er zur Kasse zurückging.

»Dagobert, ich habe schon zu viel gesagt. Sie wissen schon zu viel.«

Er schob sich dicht an mich heran.

»Sie müssen schweigen«, flüsterte ich, »es ist gefährlich! Schweigen Sie! Das Mysterium ist nah. Warum glauben Sie, haben sich so viele Kräfte in Bauernburg versammelt?«

Er zuckte die Schultern. Etbin war auf dem Weg zu uns.

»Der Teich an der 14 wird von Mulligan bewacht! Tief unten wohnen Geheimnisse, die nicht gehoben sein wollen. Die 14!«, wisperte ich heiser. »Kabbalistische Quersumme fünf! Zweimal 14 ist 28 minus fünf ist?«

»23«, hauchte Seicht fassungslos.

»Genau!«

Etbin stand am Tisch, mit dem Kassenzettel in der Hand.

»Des warren denn de Pasta, wo se gestern nicht bezahlt haben und zwei vonne große Flasche Wasser, macht 18 Euro.«

»Ich übernehme noch die Drinks von Herrn Seicht«, sagte ich.

»Das wärren dann zwei Zitronelimonad, zusamme fünf Euro, macht 23 Euro.«

Ich schaute Seicht tief in die Augen, während ich Etbin 23 Euro in die Hand drückte. »Stimmt so, der Rest ist für Sie!«

Seicht saß stumm da. Sein Mund stand offen. Etbin verbeugte sich. Er hatte meine Art von Humor schon öfter genossen.

Nachdem ich wieder zu Hause war, war ich nervlich bereits etwas angefressen. Aber dann passierte mir die nächste Schote, die mich in jene dramatischen Zustände katapultierte, von denen in diesem Buch die Rede ist.

Liebevoll streichelte ich meine Persimmon-Schläger, dachte nicht lange nach, telefonierte mit dem Club und meldete mich für das Turnier am nächsten Tag an, das trotz großer Hitze stattfinden sollte. Es folgte eine unruhige Nacht.

(c) by Eugen Pletsch 2006