Zen und die Kunst, seinen Ball zu finden

Golfanfänger, die meine Epigenese des Golfballs studiert haben, lernen heute, wie man die Bälle findet, die man für die hohe Kunst des Golfspiels braucht….

Wenn Sie eine vernünftige Runde spielen möchten, ist es Ihr Ziel, den Ball auf der Bahn zu halten, anstatt ihn rechts oder links in Wald und Wasser zu verlieren. Der sparsame Einsatz von Bällen ist bei dieser schottischen Sportart wünschenswert, aber weil wir anfangs einige Bälle verlieren werden, spielen wir nur mit gefundenen Bällen. Die kann man von Jungs aus dem Dorf kaufen, die ihr Taschengeld mit abendlichen Touren durchs Rough aufbessern, oder von einem Waldschrat, der ständig in den Brombeeren nach Bällen stochert.

Wir gehen natürlich selbst auf die Ballsuche, denn das Suchen und Sammeln von Golfbällen ist eine ehrenvolle Tätigkeit, die der sparsame Barfußgolfer, neben dem Spiel selbst, am liebsten pflegt. Es ist empfehlenswert, wenigstens im Turnier einen Zweitball zu führen, und der muss ja irgendwo herkommen.

Als engagierte Ballsucher werden Sie Ihren Heimatplatz bald wie Ihre Westentasche kennen. Die Stressabschläge, an denen der Ball links in die Büsche springt, die Doglegs, wo der Ball die Kurve nicht bekommt und die Grüns, auf denen die Bälle nicht halten und ins Rough rollen. Sie wissen, an welchem Par 5 die Longhitter Gas geben und haben die Damenabschläge im Griff, von denen es sich herrlich in die Uferböschung kullern lässt.

Durch aufmerksame Beobachtung ist Ihre Ballsuche gezielt, professionell und Sie sind in kürzester Zeit in der Lage, eine Ballmarke in gewünschter Qualität zu finden. Sie kennen die Schlaglängen der Durchschnittsspieler und wissen, wo die billigen Bälle liegen und wo der Pro seine Kugel ins Gemüse hookt. Kurz hinter dem Abschlag im hohen Gras, nach etwa dreißig Metern, ist auch eine Goldgrube mit guten Bällen, die Möchtegerncracks mit zu viel Kraft unterschlagen und in den Himmel geschickt haben.

„Der Dorfseppl“
Cartoon Peter Ruge

Gratisgolfbälle gibt es wie Sand am Meer. Sie müssen nur wissen wo! Unser Feind ist der Dorfseppl, der mit dem Pro gemeinsame Sache macht, und die habgierigen Jungs aus dem Dorf, die Sie aber verscheuchen können. Nur wenn Sie in schlammigen Senken, dunklen Tannenschonungen und im Schilf schmatzende Gerausche hören, dann laufen Sie!

Die Zeiten für eine sinnvolle Ballsuche sind von Club zu Club verschieden. Selbstverständlich sollten wir nach einem offenen Turnier oder einem Ranglistenwettkampf, wenn alle ihre guten Bälle spielen, besonders gründlich nachsuchen. Unser Bag enthält zu diesem Zweck eine Teleskopstange speziell mit Ballaufnehmer, mit der wir nicht nur die Bälle aus Fluss und Teich fischen, sondern auch in dichten Schonungen und Hecken erfolgreich arbeiten können. Bei Zählwettspielen und Meisterschaften wird leider von den Beteiligten intensiv nachgesucht, während besonders Anfängerturniere nach Stableford eine gute Beute versprechen. Da die Löcher gestrichen werden können und Anfänger immer den nächsten Flight im Nacken wähnen, geben sie ihren Ball schnell auf. Häufige Fundorte: Quickhook-Bälle 40 Meter links oder 120 Meter rechts im Unterholz. Leider sind die Anfängerbälle meist billiger Discounter-Mist.

Cartoon: Peter Ruge

Sammler exotischer Bälle mit Firmenaufdruck müssen sehr früh aufstehen. Zu dieser Zeit sind unsere lieben japanischen und koreanischen Gäste unterwegs, die, ähnlich den clubfreien Golfern, ein wenig geliebtes Schattendasein führen. Da, wo sie ihre eigenen Plätze bespielen, zum Beispiel Kosaido bei Düsseldorf, ist die Fundmarge nicht so hoch. Aber auf fremden Plätzen rechnen die Burschen mit einem gewissen Schwund und packen großzügig Bälle mit Firmenlogo bzw. Erinnerungen an ihren Honeymoon auf Hokkaido ins Bag.

Ein Ball mit kleiner Schramme wird sich erfahrungsgemäß als der haltbarste herausstellen. Da ist die Marke egal. Während neue Bälle mit kosmischer Gesetzmäßigkeit auf Nimmerwiedersehen im Aus verschwinden, wird Ihre angeschrammte Schmuddelkugel immer irgendwie die Kurve kriegen. Manche Bälle wird man fast nicht mehr los. Ich fühlte mich einmal von einem Ball geradezu verfolgt. Er sah schon alt aus, aber er schien nicht kaputtzugehen. Irgendwann hatte ich es satt, immer mit dem gleichen Ball zu spielen, der nur kerzengerade fliegen konnte. Ich hatte nur noch tolle Runden, aber das Spiel wurde langweilig. Natürlich schlug ich mit diesem Ball mein erstes Ass. Es war eine gelbe Kugel, die ich im Herbst gefunden hatte und den ganzen Winter durch spielen konnte. Unglaublich. Im Frühjahr wollte ich auf meinen anderen fast weißen Sommerball zurückgreifen (auch ich führe einen Zweitball mit, durchaus!). Der verschwand nach wenigen Löchern im Wald, worauf mich der gelbe Ball höhnisch angrinste, als ich ihn aus dem Bag fingerte. Ich konnte voll durchziehen. Nie musste ich Angst haben, den Ball zu verlieren. Er passte sich dem Wind an, flog immer gerade und krallte sich im Grün fest. Fast jeder Putt ins Loch. Der Ball begann mich zu nerven.

Eines Tages wurde es mir zu gelb und ich gedachte, den Ball vom Tee einfach wegzuschlagen. Weit weg in den Wald wollte ich ihn knallen, denn ich fand ihn in letzter Zeit aufdringlich. Der Ball vermittelte mir das Gefühl, als wäre er der eigentliche Grund für eine gute Runde. Um ihn nicht misstrauisch zu machen, stellte ich mich hin wie immer, aber mitten im Schwung hielt ich das Schlägerblatt offen. Es gelang mir ein Push, womit mein gelber Freund, den ich etwas dünn traf, offensichtlich nicht gerechnet hatte. Etwa 150 Meter zischte er flach auf den Wald zu, knallte dann jedoch gegen einen Baum und sprang zurück aufs Fairway. Finster schaute er aus seinen gelben Augen. Ich bekam es mit der Angst zu tun.

Mittlerweile haben wir uns arrangiert. Er ist kürzlich mit einer kleinen Feier verabschiedet worden, sozusagen in Pension gegangen und liegt jetzt in einem mit Intarsien gearbeiteten Holzkästchen, auf Daunen gebettet. Zu wichtigen Turnieren nehme ich ihn natürlich mit. Nicht, dass er sich dann ins Spiel drängeln würde; da lässt er den neuen Bällen den Vortritt. Aber er gibt mir eine große Sicherheit, beruhigt die jungen Bälle im Bag bei ihrem ersten Turnier und manchmal, wenn es um Sein oder Nichtsein geht, verleihe ich ihn an Tim. Dann taumelt er wie ein dicker Kieselstein durch die Luft und lächelt gemein.

Auszug aus: Der Weg der weißen Kugel,
(c) by Eugen Pletsch, 2005

Der Traumwanderer

Zur späten Abendstunde surfte ich in die Mongolei. Ich besichtigte das Kloster Gandan und den Palast Bogd Khan sowie den Schildkrötenfelsen im Nationalpark Gorkhi-Terelj, um dann im Orkhon-Tal das Kloster Erdene Zuu zu besuchen. Im Shankh Kloster erfuhr ich etwas von der lebendigen buddhistischen Tradition, um dann via Satellit in der Wüste Gobi nach einer Fata Morgana Ausschau zu halten. Leider sind große Teile der Mongolei, wie auch Teile von Russland und China, für Touristen aus dem Weltraum gesperrt.

Dann versuchte ich, mehr über Ed herauszubekommen. Nachdem ich einiges über die berühmten mongolischen Przewalski-Pferde gelesen hatte, die als Vorfahren unserer heutigen Pferde gelten, recherchierte ich das Lieblingstier der Mongolen, ohne das Dschingis Khan niemals die halbe Welt erobert hätte. Noch heute gibt es mit drei Millionen Tieren mehr Pferde als menschliche Einwohner in diesem Land. Die Nomaden sind sehr stolz auf ihre kleinen Pferde und mögen es nicht, wenn man sie als »Ponys« bezeichnet, las ich.

Aha! Damit war ich mir sicher, dass Ed mir keine Pferdegeschichten erzählt hatte, sondern tatsächlich aus der Mongolei stammte. Die Pferde leben das ganze Jahr stets im Freien, was zwischen 30 Grad Celsius im Sommer und -40 Grad im Winter schwanken kann. Mongolische Pferde sind genügsam, ausdauernd, trittsicher im Gelände und dienen den Nomaden bei der alltäglichen Arbeit. Wenn sich ein Tier an den Reiter gewöhnt hat, lässt es ihn nie im Stich. Meist werden die Pferde frei laufend gehalten, nur die Reittiere werden eingefangen und angebunden. Ihr Futter suchen sie sich selbst. Ich las auch, dass Stutenmilch (Airag) das mongolische Nationalgetränk ist und Pferderennen sehr beliebt sind. Auf einer Internetseite war ein Pferd abgebildet, das Ed tatsächlich sehr ähnlich war. Stockmaß nur 130 bis 145 cm – und trotzdem kein Pony!

Tusche: Klaus Holitzka

In der Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich trug eine bunte Kappe und wanderte ohne Ziel durch eine weite Steppe. Mein Herz war von heiterer Stimmung erfüllt. Ich sang ein mongolisches Hirtenlied und begleitete mich dabei auf einer quietschenden, quäkenden Mondlaute, indem ich mit einem Fiedelbogen über die Seiten strich.

Eine Herde wilder Pferde galoppierte auf mich zu. Der Hengst, der die Gruppe anführte, sagte: »Traumwanderer, wohin gehst du?«

»Ich bin, wo ich bin«, sagte ich. »Ich suche keine Antwort und habe kein Ziel.«

Der Hengst erwiderte: »Wann immer du willst, reite ich mit dir in die Dunkel­heit, um das Licht zu finden.«

Ich dankte ihm und versprach, ihn in der Traumzeit aufzusu­chen, wenn ich ihn brauchen würde. Dann ging ich weiter und quietschte fröhlich auf meiner Mondlaute, bis ich einen Mann sah, der mir schon aus der Ferne bekannt vorkam.

Nein, nicht schon wieder! Es war Ho Lin Wan, mein Gefährte aus meinem früheren Leben in Tibet[1]. Er war in die wilde, wirre, bunte, schmuddelige Pracht eines mongolischen Schamanen gekleidet. In einer Hand trug er eine Gebetsmühle, in der anderen ein Seil. Ho Lin Wan! Nirgendwo war man vor ihm sicher. Seltsamerweise schien er mich nicht zu sehen. Er wollte gerade an mir vorübergehen, als ich ihn ansprach. Da blieb er stehen und schaute mich lange an, als würde er mich nicht erkennen.

»Ho Lin Wan«, sagte ich, »wohin gehst du?«

»Ich suche mein Pferd. Hast du es gesehen?«

Ich nickte. »Eben traf ich eine Herde wilder Pferde.«

Ho Lin Wan sagte: »Nein, die kenne ich. Da ist mein Pferd nicht bei. Hast du sonst etwas zu meiner Erleuchtung beizutragen?«

Ich quietschte ein paar Bogenstriche auf meiner Laute und sang mein Mantra: »Ich lebe, ich glaube, ich vertraue, ich bin dankbar, ich bin mutig …«

Ho Lin Wan grummelte. »Grässliches Geräusch. Wann wirst du endlich deinen Ton finden?«

»Wozu muss ich meinen Ton finden?«

»Damit du deine Zuhörer zur Aufmerksamkeit führst und auch sie ihren Ton finden.«

»Und was bewirkt dieser Ton, den ich suchen soll?«

»Er schafft dir eine Verbindung zur Quelle deiner Kraft.«

»Wie finde ich diesen Ton?«

»Indem du still bist! Denk über die Stille nach, wenn du schon denken musst!«

Ho Lin Wan schien ziemlich schlecht gelaunt zu sein. Früher hätte ich mich mies gefühlt. Wenn man zu einer mongolischen Laute schräge Lieder singt, klingt es nun mal ziemlich schaurig, aber für mich hörte es sich gut an. Es machte mir Spaß. Also würde ich mir die Laune nicht vermiesen lassen. Trotzdem dankte ich dem alten Schlauberger für seine weisen Worte und versprach ihm, an meinem Ton zu arbeiten.

»Sehr gut«, sagte Ho Lin Wan, »dieser Ort ist die totale Leere, ein guter Platz, um seinen Ton zu finden. Du bist nichts geworden, hast nichts erreicht und das ist gut so. Was immer auftaucht, sind ohnehin nur Formen deines Ich-Bewusstseins.«

»Bin ich hier, weil ich träume, ich wäre in der Mongolei? Oder lebe ich hier und träume, ich würde Golf spielen und merkwürdige Bücher schreiben?«, fragte ich ihn.

»Frage dich: Wer ist es, der nichts versteht?«

»Ho Lin Wan, ich bin froh, dich getroffen zu haben. Ich frage mich nur, warum ich nichts verstehe.«

»Erinnere dich des Bardo Thödol[2]«, sagte er ernst. »Befreiung durch Hören im Zwischenzustand. Finde deinen Ton, dann wirst du hören können.«

Bei früheren Begegnungen hätte ich mich mit solchen Sprüchen abspeisen lassen, aber diesmal war es anders. Ich fühlte mich wohl mit meinen quietschenden Geräuschen und falschen Tönen. War diese Steppe nicht groß genug für uns beide? Trotzdem fragte ich, als er weitergehen wollte: »Und was ist mit dem Pferd?«

»Das Pferd ist weg. Hat sich davongemacht, schon vor seiner Geburt, vermutlich weil es die totale Leere leid war.«

»Vor seiner Geburt?«

»Ja, ich kenne mein Pferd aus früheren Leben. Tibet, China, wo immer es zu trocken, zu heiß, zu kalt oder zu nass war, sind wir zusammen gewandert. Zuletzt hatte es die Steinwüsten und steilen, engen Bergpfade satt. Das Pferd träumte von satten, grünen Weiden und einem geruhsamen Leben ohne Kletterei.«

»Dann ahne ich, wo dein Pferd steht.«

»Wo?«

»Ach, es ist nur eine Vermutung meines verblendeten, falsch tönenden Ich-Bewusstseins.«

»Sag! Wo?«

Mit einem dämonischen Grinsen schaute ich ihn an und stöhnte:

»Schuhu, Schuhu,

sieh selber zu,

dein Pferd steht

in der Waldesruh!«

Lachend rannte ich davon. Ho Lin Wan lief hinter mir her und versuchte, einen Stein nach mir zu werfen, aber ich ritt bereits auf dem monotonen Summen meiner magischen Laute durch die Lüfte davon. Ich flog über gelbe Täler, dann durch graue Wolken, bis sich das Summen zu einem durchdringenden Brummen verstärkte, von dem ich schließlich erwachte. Frau Pfeiffers Staubsauger dröhnte durch die Waldesruh – ich sah auf die Uhr: Halb zehn! Komplett verpennt.


[1] › Vgl. Eugen Pletsch: Der Weg der weißen Kugel

[2] › Vgl. Evan Wentz: Das tibetanische Totenbuch

Auszug aus: Achtung Golfer- Schlägertypen in Wald und Flur

Mulligan

Die wundersamste Wandlung vom bornierten Ignoranten zum Quantengolfer erlebte ich bei dem Mann, den wir Mulligan nannten.

Obwohl er es mit den Golf-Regeln nicht so genau nahm, war Mulligan eigentlich kein schlechter Kerl, nur ziemlich nervig. Bei Turnieren flippte er regelmäßig aus – und das aus gutem Grund: Sein erster Drive war gewöhnlich ein grässlicher Slice ins Aus und mit dem zweiten erreichte er manchmal das Fairway, aber dann war der Choleriker bereits am Brodeln und prügelte auf jeden Busch ein, der seinem verzweifelten Ball Deckung bot.

Mulligan hatte sich bereits mehrere Golfbücher geliehen, aber nie wirklich gelesen. Kaufen würde er sich diesen Mist selbst ernannter Fachleute sowieso nicht. Er war ein verkrampfter, verbitterter Slicer, der glaubte, eigentlich ein Scratchgolfer* zu sein. Leider passt »Scratchgolfer« nicht gut mit »cholerischer Slicer« zusammen.

Unter seinen Mitspielern galt Mulligan als verbohrte Kaninchenzüchtermentalität und echter Korinthenkacker, der den Clubvorstand bei jeder Jahreshauptversammlung mit etwas nervte, was er (allein) als »konstruktiven Vorschlag« ansah.

Auch vom Pro hielt er nicht viel, seit ihm dieser erklärte hatte, dass er, Mulligan, weder inside out durch den Ball schwang, noch das Gewicht verlagerte, geschweige denn in der Endposition zum Ziel stand. HA! Der Pro hatte doch keine Ahnung! Mulligan wusste es besser. Er glaubte einen harmonischen Schwung zu besitzen, der höchstens eines Feintunings im Griff bedürfe, vielleicht ein etwas leichterer Druck im linken Ringfinger, zweites Glied.

Was für ein Quatsch! Die beiden Schraubstöcke, mit denen er seinen Gummigriff würgte, gehörten mit Dynamit gesprengt. Auf Videoaufnahmen hätte er sehen können, dass sein Schwung einem alten Gorilla glich, der unwirsch nach Fliegen schlägt. Aber das wollte er nicht wahrhaben, da seine Mentalität von einer verzwickten, frühkindlichen Beziehung zum Vater geprägt war.

Mulligan hasste clubfreie Golfer und wünschte sich deshalb, dass die Aufnahmegebühren im Club erhöht würden. Seine Clubkameraden litten unter seinem Gebrüll sowie unter seinem langsamen Spiel, denn Mulligan ließ aus Prinzip nicht durchspielen. Noch mehr jedoch litten die Bäume und Büsche, die er mit seinen Schlägern traktierte.

Cartoon: Peter Ruge

Eines Abends passierte etwas Merkwürdiges. Es war an der 14. Bahn und es dämmerte bereits. Mulligan hatte seinen Ball in den Teich gedroschen. Er sah ihn im Schilf schimmern, kam aber nicht ran, worauf er in seiner Wut mit dem Sandeisen wild auf Teichpflanzen, Frösche und Sträucher einhackte, bis er sich erschöpft auf einer Bank vor der kleinen Wetterhütte hinter dem 14. Grün niederließ.

Er nahm sein Fleischwurstbrot aus dem Bag und wollte gerade reinbeißen, als er meinte, ein Klingeln zu hören. Das Klingeln kam aus dem Teich, und es klang nach einem uralten Telefon: ring ring … ring ring … Merkwürdig. Mulligan stand auf, ging zum Teichrand, ließ sich auf allen Vieren nieder und lauschte. Tatsächlich klingelte es im Teich.

In diesem Moment huschten ein paar Wesen aus den Zwischenreichen, die in Irland als das »Kleine Volk« bezeichnet werden (und die von Mulligan die Nase gestrichen voll hatten), zur Bank und legten ein paar Zauberpilze zwischen die Fleischwurstscheiben von Mulligans Stulle. Diese kleinen, braunen Schirmlinge wachsen auf mageren Wiesen und wurden in alten Zeiten von Sehern und Schamanen benutzt, um die Tore zur anderen Welt zu öffnen. Auch die alten schottischen Golfer von Leith stromerten im frühen 18. Jahrhundert über die Links, wo sie nach Golfbällen, Pilzen und Visionen suchten. Einige aus dem Kleinen Volk, das für seinen Schabernack berüchtigt ist, meinten, ein paar Visionen würden dem überspannten Mulligan gut tun.

Das Klingeln verstummte. Mulligan schüttelte den Kopf, setzte sich wieder auf die Bank und grübelte, während er weiterfutterte. Er hatte sein Brot bereits verschlungen, als er einen scharfen Geschmack im Mund spürte. Seine Wasserflasche war leer, und so zwang ihn der Durst zum Teich zurück, wo er versuchte, etwas Wasser zu schöpfen. Dabei rutschte er aus. Hände und Arme im Schlamm steckend, bemerkte er, wie weich und warm das Wasser war. Während er sich noch wunderte, was er da tat, malte er sich mit seinen Schlammfingern Streifen ins Gesicht. Als Kind hatte er sich gewünscht, wie ein Indianer zu leben. Was war aus ihm geworden? Kein Indianer, sondern ein ewiger Nörgler, durchfuhr es ihn. Er versuchte aufzustehen, fühlte sich aber plötzlich sehr erschöpft und musste sich hinlegen. Eine kurze Panik überkam ihn, dann wurde ihm klar, dass es sein ganzes Leben war, das so schwer auf ihm lastete. Er hatte nicht mal mehr die Kraft, um loszubrüllen.

Er wälzte sich auf den Rücken und spürte die feuchte Wärme des Uferschlamms, während eine Hand im Wasser hing. Mulligan starrte in den Himmel, an dem sein ganzes bisheriges Leben vorbeizog. Merkwürdig. Das war er? Sein Leben? War es das? Fragen kamen auf: Wer bin ich? Warum bin ich? Warum bin ich hier und warum geschieht mir das alles?

Dann begann ihn eine schwebende Leichtigkeit zu erfüllen. Zunächst ganz sanft, dann immer intensiver, spürte er ein Wärmegefühl im Herzen. Würde er jetzt sterben?

Es war Nacht geworden. Während sein Herz immer leichter wurde, sah Mulligan alles um sich herum kristallklar, in einer ihm bisher unbekannten Schärfe. Ein Stern funkelte ihn an. »Der Stern zwinkert mir zu«, dachte Mulligan. Die Blätter und Äste der Bäume erstrahlten in einem inneren Licht. »Diese Bäume sind Lebewesen – alles hat ein Wesen, sogar die Steine und auch das Wasser!« Seine Hand plätscherte im warmen Teich. Er begann das Wasser zu streicheln, sich mit dem samtweichen Wesen des Wassers zu verbinden. In dem Moment, als er sein Herz öffnete, geschah ihm das, was alle Mystiker seit Jahrhunderten beschreiben, wenn der Dornbusch brennt: Licht floss aus seinem Herzen, sein Körper war ein Elektronenschwarm, sein Geist reines Bewusstsein. Er war ein Teil von allem, oder besser noch: Er war alles, er war das ganze Universum und das ganze Universum war in ihm. »Alles ist Eins, die Essenz ist Leere. Alle Form ist Illusion, Sternenstaub in einem kosmischen Tanz«, sagte eine Stimme, die ihn erfüllte und durchdrang. Seine Stimme? Mulligan musste lachen. Ein tiefes, glückliches Lachen durchschüttelte seinen Bauch, während er immer noch in der warmen Brühe lag. Die harten Krusten, die seine Seele umgaben, weichten auf und versanken mit dem alten Mulligan im Schlamm.

Äonen später hörte er ein feines Silberglöckchen. Ein Strahl des Mondlichtes zog ihn mit sich nach oben und im gleichen Moment erblickte Mulligan das große, atmende, pulsierende Wesen der Erde. Dann sah er die dunklen, grauen und giftigen Narben und Geschwüre, die der Mensch ihr zugefügt hatte, und begann zu weinen.

Als er erwachte, spürte Mulligan ein leichtes Gefühl von Schwindel. Noch immer erfüllte ihn diese besondere Wahrnehmung, doch langsam kamen auch wieder Gedanken in ihm hoch. Er hörte den Schlag seines Herzens, schaute an sich herab und sah sein treues Herz in der Brust schlagen. Er sah seine Adern und Nervenbahnen. Dann schaute er sich um. Die ganze Landschaft, Boden, Busch und Baum waren von ätherisch leuchtenden Energiebahnen durchzogen. Irgendwer oder irgendwas in ihm begann zu verstehen, aber er hätte nicht sagen können, was. Hätte er ES benennen können, wäre es DAS nicht gewesen.

Er hörte ein leises Kichern und dann sah er das Kleine Volk. Mulligan lächelte sie freundlich an. Seine Schale war geplatzt, der Stein in seinem Herzen geschmolzen. Die kleinen, grünen Männchen kamen näher, schnatterten aufgeregt und zeigten auf sein Herz. Das Bum Bum, Bum Bum wurde immer lauter. Sie begannen zu tanzen. Mulligan stand auf und tanzte mit ihnen. Mit seinen Armen schwang er hin und her. Dabei entdeckte er seinen Schwung, seinen Rhythmus, seine in diesem Universum ureigene Schwingung, die, wie bei allen Wesen, einmalig und unauslöschlich ist.

Cartoon: Peter Ruge

Auszug aus: Der Weg der weißen Kugel