Mulligan

Die wundersamste Wandlung vom bornierten Ignoranten zum Quantengolfer erlebte ich bei dem Mann, den wir Mulligan nannten.

Obwohl er es mit den Golf-Regeln nicht so genau nahm, war Mulligan eigentlich kein schlechter Kerl, nur ziemlich nervig. Bei Turnieren flippte er regelmäßig aus – und das aus gutem Grund: Sein erster Drive war gewöhnlich ein grässlicher Slice ins Aus und mit dem zweiten erreichte er manchmal das Fairway, aber dann war der Choleriker bereits am Brodeln und prügelte auf jeden Busch ein, der seinem verzweifelten Ball Deckung bot.

Mulligan hatte sich bereits mehrere Golfbücher geliehen, aber nie wirklich gelesen. Kaufen würde er sich diesen Mist selbst ernannter Fachleute sowieso nicht. Er war ein verkrampfter, verbitterter Slicer, der glaubte, eigentlich ein Scratchgolfer* zu sein. Leider passt »Scratchgolfer« nicht gut mit »cholerischer Slicer« zusammen.

Unter seinen Mitspielern galt Mulligan als verbohrte Kaninchenzüchtermentalität und echter Korinthenkacker, der den Clubvorstand bei jeder Jahreshauptversammlung mit etwas nervte, was er (allein) als »konstruktiven Vorschlag« ansah.

Auch vom Pro hielt er nicht viel, seit ihm dieser erklärte hatte, dass er, Mulligan, weder inside out durch den Ball schwang, noch das Gewicht verlagerte, geschweige denn in der Endposition zum Ziel stand. HA! Der Pro hatte doch keine Ahnung! Mulligan wusste es besser. Er glaubte einen harmonischen Schwung zu besitzen, der höchstens eines Feintunings im Griff bedürfe, vielleicht ein etwas leichterer Druck im linken Ringfinger, zweites Glied.

Was für ein Quatsch! Die beiden Schraubstöcke, mit denen er seinen Gummigriff würgte, gehörten mit Dynamit gesprengt. Auf Videoaufnahmen hätte er sehen können, dass sein Schwung einem alten Gorilla glich, der unwirsch nach Fliegen schlägt. Aber das wollte er nicht wahrhaben, da seine Mentalität von einer verzwickten, frühkindlichen Beziehung zum Vater geprägt war.

Mulligan hasste clubfreie Golfer und wünschte sich deshalb, dass die Aufnahmegebühren im Club erhöht würden. Seine Clubkameraden litten unter seinem Gebrüll sowie unter seinem langsamen Spiel, denn Mulligan ließ aus Prinzip nicht durchspielen. Noch mehr jedoch litten die Bäume und Büsche, die er mit seinen Schlägern traktierte.

Cartoon: Peter Ruge

Eines Abends passierte etwas Merkwürdiges. Es war an der 14. Bahn und es dämmerte bereits. Mulligan hatte seinen Ball in den Teich gedroschen. Er sah ihn im Schilf schimmern, kam aber nicht ran, worauf er in seiner Wut mit dem Sandeisen wild auf Teichpflanzen, Frösche und Sträucher einhackte, bis er sich erschöpft auf einer Bank vor der kleinen Wetterhütte hinter dem 14. Grün niederließ.

Er nahm sein Fleischwurstbrot aus dem Bag und wollte gerade reinbeißen, als er meinte, ein Klingeln zu hören. Das Klingeln kam aus dem Teich, und es klang nach einem uralten Telefon: ring ring … ring ring … Merkwürdig. Mulligan stand auf, ging zum Teichrand, ließ sich auf allen Vieren nieder und lauschte. Tatsächlich klingelte es im Teich.

In diesem Moment huschten ein paar Wesen aus den Zwischenreichen, die in Irland als das »Kleine Volk« bezeichnet werden (und die von Mulligan die Nase gestrichen voll hatten), zur Bank und legten ein paar Zauberpilze zwischen die Fleischwurstscheiben von Mulligans Stulle. Diese kleinen, braunen Schirmlinge wachsen auf mageren Wiesen und wurden in alten Zeiten von Sehern und Schamanen benutzt, um die Tore zur anderen Welt zu öffnen. Auch die alten schottischen Golfer von Leith stromerten im frühen 18. Jahrhundert über die Links, wo sie nach Golfbällen, Pilzen und Visionen suchten. Einige aus dem Kleinen Volk, das für seinen Schabernack berüchtigt ist, meinten, ein paar Visionen würden dem überspannten Mulligan gut tun.

Das Klingeln verstummte. Mulligan schüttelte den Kopf, setzte sich wieder auf die Bank und grübelte, während er weiterfutterte. Er hatte sein Brot bereits verschlungen, als er einen scharfen Geschmack im Mund spürte. Seine Wasserflasche war leer, und so zwang ihn der Durst zum Teich zurück, wo er versuchte, etwas Wasser zu schöpfen. Dabei rutschte er aus. Hände und Arme im Schlamm steckend, bemerkte er, wie weich und warm das Wasser war. Während er sich noch wunderte, was er da tat, malte er sich mit seinen Schlammfingern Streifen ins Gesicht. Als Kind hatte er sich gewünscht, wie ein Indianer zu leben. Was war aus ihm geworden? Kein Indianer, sondern ein ewiger Nörgler, durchfuhr es ihn. Er versuchte aufzustehen, fühlte sich aber plötzlich sehr erschöpft und musste sich hinlegen. Eine kurze Panik überkam ihn, dann wurde ihm klar, dass es sein ganzes Leben war, das so schwer auf ihm lastete. Er hatte nicht mal mehr die Kraft, um loszubrüllen.

Er wälzte sich auf den Rücken und spürte die feuchte Wärme des Uferschlamms, während eine Hand im Wasser hing. Mulligan starrte in den Himmel, an dem sein ganzes bisheriges Leben vorbeizog. Merkwürdig. Das war er? Sein Leben? War es das? Fragen kamen auf: Wer bin ich? Warum bin ich? Warum bin ich hier und warum geschieht mir das alles?

Dann begann ihn eine schwebende Leichtigkeit zu erfüllen. Zunächst ganz sanft, dann immer intensiver, spürte er ein Wärmegefühl im Herzen. Würde er jetzt sterben?

Es war Nacht geworden. Während sein Herz immer leichter wurde, sah Mulligan alles um sich herum kristallklar, in einer ihm bisher unbekannten Schärfe. Ein Stern funkelte ihn an. »Der Stern zwinkert mir zu«, dachte Mulligan. Die Blätter und Äste der Bäume erstrahlten in einem inneren Licht. »Diese Bäume sind Lebewesen – alles hat ein Wesen, sogar die Steine und auch das Wasser!« Seine Hand plätscherte im warmen Teich. Er begann das Wasser zu streicheln, sich mit dem samtweichen Wesen des Wassers zu verbinden. In dem Moment, als er sein Herz öffnete, geschah ihm das, was alle Mystiker seit Jahrhunderten beschreiben, wenn der Dornbusch brennt: Licht floss aus seinem Herzen, sein Körper war ein Elektronenschwarm, sein Geist reines Bewusstsein. Er war ein Teil von allem, oder besser noch: Er war alles, er war das ganze Universum und das ganze Universum war in ihm. »Alles ist Eins, die Essenz ist Leere. Alle Form ist Illusion, Sternenstaub in einem kosmischen Tanz«, sagte eine Stimme, die ihn erfüllte und durchdrang. Seine Stimme? Mulligan musste lachen. Ein tiefes, glückliches Lachen durchschüttelte seinen Bauch, während er immer noch in der warmen Brühe lag. Die harten Krusten, die seine Seele umgaben, weichten auf und versanken mit dem alten Mulligan im Schlamm.

Äonen später hörte er ein feines Silberglöckchen. Ein Strahl des Mondlichtes zog ihn mit sich nach oben und im gleichen Moment erblickte Mulligan das große, atmende, pulsierende Wesen der Erde. Dann sah er die dunklen, grauen und giftigen Narben und Geschwüre, die der Mensch ihr zugefügt hatte, und begann zu weinen.

Als er erwachte, spürte Mulligan ein leichtes Gefühl von Schwindel. Noch immer erfüllte ihn diese besondere Wahrnehmung, doch langsam kamen auch wieder Gedanken in ihm hoch. Er hörte den Schlag seines Herzens, schaute an sich herab und sah sein treues Herz in der Brust schlagen. Er sah seine Adern und Nervenbahnen. Dann schaute er sich um. Die ganze Landschaft, Boden, Busch und Baum waren von ätherisch leuchtenden Energiebahnen durchzogen. Irgendwer oder irgendwas in ihm begann zu verstehen, aber er hätte nicht sagen können, was. Hätte er ES benennen können, wäre es DAS nicht gewesen.

Er hörte ein leises Kichern und dann sah er das Kleine Volk. Mulligan lächelte sie freundlich an. Seine Schale war geplatzt, der Stein in seinem Herzen geschmolzen. Die kleinen, grünen Männchen kamen näher, schnatterten aufgeregt und zeigten auf sein Herz. Das Bum Bum, Bum Bum wurde immer lauter. Sie begannen zu tanzen. Mulligan stand auf und tanzte mit ihnen. Mit seinen Armen schwang er hin und her. Dabei entdeckte er seinen Schwung, seinen Rhythmus, seine in diesem Universum ureigene Schwingung, die, wie bei allen Wesen, einmalig und unauslöschlich ist.

Cartoon: Peter Ruge

Auszug aus: Der Weg der weißen Kugel