Seniorenclubmeister Dagobert Seicht

Dagobert Seicht, der Mann mit dem tulpenförmigen Oberdeckbiss und dem unglaublichen Gedächtnis taucht in manchen meiner Geschichten auf, z.B. in der Illuminaten-Hommage ‚Die 23‘ (siehe GolfGaga, der Fluch der weißen Kugel).

Von einem breiten weißen Schirm vor der Sonne geschützt, saß der amtierende Seniorenclubmeister Dagobert Seicht in seinem Lehnstuhl aus angeblich nachhaltig erwirtschaftetem Tropenholz.
Dicke Hummeln labten sich an den Blüten des weißen Flieders, der seitlich der Clubhausterrasse wuchs. Der Tag hatte sich trotz der Gewitterwarnung eines geschwätzigen Wetteronkels prächtig entwickelt. Die liebe Sonne lächelte freundlich auf Seicht herab, der mit dämmrigem Blick zwei Spieler beobachtete, die ihre Annäherungsschläge zum Grün mit traumhafter Sicherheit im Teich versenkt hatten. Der amtierende Seniorenclubmeister lächelte, als er daran dachte, wie er dieses gefräßige Wasserloch am Finaltag großräumig umspielt hatte. Sein Spielplan sah ein Doppelbogey vor, was ihm lieber war, eine grässliche 8 zu stümpern, die aus der Gier geboren alle seine Träume zunichte gemacht hätte. Ein Doppelbogey auf der 18 reichte ihm zum Sieg.
Benebelt von warmem Fliederduft glitten Seichts Gedanken zurück zu jenem Tag, als er, sozusagen als Einäugiger unter Blinden, die Seniorenclubmeisterschaft gewann und in euphorischer Stimmung den gläsernen Humpen küsste, den man ihm überreicht hatte. Dass der verkappte Club-Chronist mit dem Überraschung-Schwung die begehrte Trophäe ergattern würde, hatte allgemeines Erstaunen hervorgerufen. Auch Seicht wusste, dass dieser Sieg keinesfalls seinem Spielvermögen zuzuschreiben war, (der Score, mit dem er gewann, war mehr als lausig), sondern vielmehr der Tatsache, dass die besseren Spieler seiner Altersgruppe die reguläre Clubmeisterschaft mitgespielt hatten oder noch in den Ferien weilten. Doch das focht ihn nicht an. Nach der Clubmeisterschaft trug er eine selbstgebastelte Krone aus Goldpappe, bis diese in einem Regenschauer aufweichte. Da ohnehin niemand bereit war, ihn in seiner Königs-Rolle zu hofieren, setze er die nasse Krone ab und beschloss, in aller Stille zu regieren.
Gewöhnlich saß Seicht auf der Clubhausterrasse, träumte vor sich hin und gedachte der guten, alten Zeiten. Wenn sich ein unbedarfter Golf-Rabbit näherte, versuchte Seicht, dem jungen Eleven die gesammelten Weisheiten aus Tausendundeinem Spiel zu erzählen, was jedoch nicht immer auf Interesse stieß.
„Übrigens, hatte ich dir schon erzählt…“
„Ja, Herr Seicht, mehrfach…danke.“.
Dennoch genoss Seicht die Einsamkeit, die er für den natürlichen Aggregatszustand jener Menschen hielt, die Außerordentliches geleistet hatten. Von der hohen Warte der Selbstbetrachtung ging sein Blick zu den Hummeln, die im Flieder ihrer Arbeit nachgingen. Er wartete auf Etbin, der ihm seine Zitronenlimonade bringen würde. Die junge Aushilfe ignorierte er, da sie sich standhaft weigerte, beim Bedienen einen Knicks zu machen, um ihn dann mit Herr Seniorenclubmeister anzusprechen.

Seicht ist ein Mann der Zahlen. Sein unglaubliches Gedächtnis ermöglicht ihm, die Handicaps aller aktiven Spieler im Club aus dem Kopf abzurufen und obwohl der Club die Turnierergebnisse mittlerweile per Computer ermittelte, war Seicht stets auf dem Laufenden. Seine Auswertungen im Kopf galten als schnell und sicher, seine CSA-Vorhersagen hatten eine Trefferquote von 100 %. Seichts Hang zur Mathematik beinhaltete aber auch ein, gelinde gesagt, überspanntes Interesse an der Zahlenmystik der Kabbala und dem Geheimwissen verschworener Bruderschaften, das nicht mehr so ganz geheim war, seit man alle Geheimnisse der Welt im Internet nachlesen konnte. Seichts Hang zu Verschwörungstheorien wurde nur von seinem Interesse an Weltuntergangsszenarien übertroffen.
An meinem Spind in der Umkleidekabine (der zufällig die Nr. 23 trug), hatte ich einen gelben Zettel gefunden.

Heute 15 Uhr. Clubhausterrasse. DS.

Das DS stand offensichtlich für Dagobert Seicht, denn es war von einer stilisierten Pyramide ummalt, über der ein winziges Auge schwebte.
Seicht, dessen Fähigkeit zur obskuren Weltbetrachtungen bereits an anderer Stelle geschildert habe, ist eine jener Gestalten, die einem Golfclub diesen Flair von Einzigartigkeit verleihen können, der nur dann entsteht, wenn sich eine kritische Masse an Spielern von der Weisheit zum Wahnsinn bewegt hat.

Als er mich erblickte, nickte mir Seicht leutselig zu und mit einem schwachen Wedeln der königlichen Rechten wies er auf den Stuhl, der ihm den Blick auf den Flieder und die 18. Bahn frei lassen würde.
„Lange nicht gesehen“.
„Ja, schön mal wieder hier zu sein.“
„Lieber Dagobert, darf Ihnen, wenngleich mit sechs Monaten Verspätung, zur Seniorenclubmeisterschaft gratulieren?“
„Oh, hat man davon gehört. Dabei ist das doch nichts Besonderes“.
Seicht wand sich in dem Versuch bescheiden zu wirken, dabei strahlte er vor Glück und ergriff meine Hand, die ich ihm hingestreckt hatte.
„Ja, das war der größte Moment in meiner Karriere als Golfer,“ platzte es aus ihm hervor. „An 4287 Trainingstagen habe ich mich auf diesen Moment vorbereitet. In 720 Wochen habe ich 2861 Runden gespielt und mein Handicap auf 16,2 reduziert.“
„Donnerwetter!“
„In dieser Zeit habe ich übrigens 861 Bälle verloren, und  917 Bälle gefunden, womit ich auch hier eine positive Bilanz vorzuweisen habe. Alles in allem kann ich sagen, dass der Golfsport gut zu mir war, und ich die verbleibende Zeit genießen werde.“
„Die verbleibende Zeit?“
„Na ja…“. Verdrehte die Augen und schaute verschwörerisch.
„Aber nun mal zu Ihnen. Sie sind hier, um diese GTP-Leute zu unterstützen?“
Seine Hasenschnute zuckte nervös. Janzen, Schunk und diese ganze Truppe vom Golftherapeutischen Pflegedienst waren ihm suspekt.
„Ja, aber auch, um an meinem neuen Buch zu arbeiten.“
„Davon habe ich gehört. Wie interessant! Wann soll es erscheinen?“
„Im Frühjahr 2013.“
„Ob das noch Sinn macht?“
„Wie meinen?“
„Allen alten Überlieferungen und Weissagungen zur Folge wird dieser Planet am 23.12.2012 mindestens einen Polsprung, wenn nicht Ärgeres erleben. Die Welt wird nie mehr sein, wie sie war – wenn es sie dann überhaupt noch gibt.“

„Der Verlag, der meine Werke veröffentlicht, ist ein Traditionshaus, das schon manchen Polsprung überlebt hat. Wären ernstzunehmende Veränderungen von kosmischer Dimension zu erwarten, dann hätte die Abteilung Astronomie für das Herbstprogramm entsprechende Titel angekündigt. Da das nicht der Fall war, gehe ich davon aus, dass sich der Planet auch im Jahr 2013 drehen wird.“

„Die Frage ist nur, in welcher Richtung. Aber gut, wir werden sehen. Worum geht es in Ihrem neuen Buch, oder ist das noch geheim?“
„Nein, Dagobert, das ist kein Geheimnis. Ich will verschiedene Golfer-Typen vorstellen, Menschen, die sich für dieses hübsche Hobby entschieden haben. Freundliche, sympathische Gestalten voller Lebensfreude und Humor, die ihre Geschichte erzählen.“
„Na, das hat uns noch gefehlt“, murmelte Seicht.
Sein Blick streifte die wogenden Formen einer Spielerin auf dem 18. Grün, die ihrer Lebensfreude gerade freien Lauf ließ, nachdem ihr 4. Putt endlich gefallen war. Der amtierende Seniorenclubmeister räusperte sich:
“Das Golfspiel ist ein Strategiespiel, das Ruhe und eine gewisse Intelligenz erfordert. Die geistigen Anforderungen machen Golf zu einem leisen Sport, bei dem man sich sowohl als Spieler als auch als Zuschauer ähnlich verhält, wie auf einem Schach-Turnier oder bei einem Piano-Konzert. Vielleicht könnten Sie Ihren Lesern das bei der Gelegenheit mitteilen?“
Kaum gesagt, erklang ein gellender Schrei. Frau Langer hatte wiedermal versucht, das 269 Meter entfernte Grün vom 18. Abschlag aus anzugreifen. Ihr Ball raste direkt auf die Clubhaus-Terrasse zu, worauf sich einige Gäste unter die Tische warfen.
„Golfer-Typen.. tz tz..“, sinnierte Seicht. „Dazu habe ich eine Theorie.“
Er nickte wohlwollend, als sich Etbin der Kellner mit einem Glas Zitronenlimonade näherte, während Frau Langers 2. Abschlag mit dem Eisen glucksend im Teich verschwand.
„Eine Theorie?“
Seicht nickte.
„Ich bin der Ansicht, dass jeder Golfer einem Archetypus angehört und sein Schwung genetisch vorprogrammiert ist. Wer C.G. Jung richtig interpretiert, kommt zu dem Schluss, dass Golfunterricht dem jeweiligen Archetypus entsprechen sollte und in einer Traumarbeit erfahren werden muss.“
„An welche Archetypen denken Sie da?“
„Nun, äh…“. Seicht schien überrascht zu sein, dass jemand freiwillig bereit war, seiner Archetypen-These Aufmerksamkeit zu schenken. Er schob ein paar lange graue Strähnen hinter das königliche Ohr, stülpte die Unterlippe vor, als schien er einen Moment nachdenke zu wollen und  schoss dann aus der Hüfte:

Meine Berechnungen haben ergeben, dass es 2179 verschiedene Golfer-Typen gibt, sozusagen die Basismodelle, was sich aus den Sternzeichen, genetischen, psychologsichen, physiologischen und 43 andern Komponenten leicht errechnen lässt. Ich denke, das Sie Ihre Überlegungen zu einem ähnlichen Ergebnis geführt haben.“
„Äh“, ich schluckte.
„Wenn wir diese 2179 Typen unter golferischen, gesellschaftlichen und charakterlichen Gesichtspunkten betrachten, kommen wir zu einer solchen Vielzahl von Typen, dass es einfacher ist zu sagen: der Golfer läßt sich nicht in einem sinnvollen System einordnen.“
Ich atmete auf.
„Das deckt sich mit meinen Beobachtungen.“
Aha! Aber was bleibt uns dann?
Archetypen, die charakterlichen Kriterien in Verbindnung mit dem Totemtier  …
„Sehr interessant. Inwieweit wurde Ihr Gedanke von Golflehrern aufgegriffen?“
„Null Resonanz. Kann sein, dass einige Golflehrer die Worte ‚Archetypus‘ und ‚Traumarbeit‘ nachgeschlagen haben, aber eine Diskussion fand nicht statt. Warum auch? Ärzte leben davon, dass wir krank sind Golflehrer davon, dass wir das Spiel nicht lernen.“
„Ja, die fachliche Diskussion ist hierzulande ein Problem. Ich hatte ein holistisches Golfmandala vorgestellt und meine These war, das jedwede Anleitung zum Golfspiel auf einem Quantenzufall beruht. Deshalb würde es auch ausreichen, wenn man Wurfpfeile auf eine Scheibe wirft, die mit Schwunggedanken vollgeschrieben ist..ich dachte, das würde ein Revolution in der Golfdidaktik auslösen…aber … Pustekuchen.“
„Ich habe Ihre Mandala-Theorie gründlich studiert. Ein sehr interessanter Ansatz, aber der Punkt ist doch der: Selbst wenn Golflehrer mit ihren Anweisungen im Trüben fischen, umgibt sie dennoch ein Mythos der Unfehlbarkeit, der durch Ihre Methode verloren ginge. Das wäre für Golflehrer ein Schuss ins Knie. Andererseits: Welcher Golfer sucht wirklich Lösungen? Wenn ich einen Mitspieler nach mehreren Schlägen ins Wasser eindeutig als „Frosch-Archetyp“ bestimmen konnte, der bei entsprechendem  Hüpf-Training selbst einen Polsprung überleben würde, fand das wenig Interesse …aber … ach, was solls.“
Der amtierende Seniorenclubmeister versuchte zu lächeln, was bei seinem tulpenförmig vorgewölbten Hasenzähnen etwas komisch aussah. In der würdevollsten Haltung, die ihm sein Lehnstuhl aus angeblich nachhaltig erwirtschaftetem Tropenholz einzunehmen gestattete, beschied er:
„Es ist, wie es ist. Eine Golfsaison haben wir noch vor uns und ich werde versuchen, meinen Titel zu verteidigen.  Dem gilt meine Konzentration!“
„Ich werde Ihre Archetypen im Auge behalten“, versprach ich ihm.
Seicht winkte die Bedienung herbei, bat um die Rechnung und verabschiedete sich und Richtung Kurzplatz, um noch ein Stündchen an seinem kurzen Spiel zu feilen.
Ich blieb noch einen Moment sitzen und dachte nach. Das war wirklich interessant. Traumarbeit und Trance ist im Golfcoaching bisher kaum bekannt. Vielleicht sollte ich darüber mit Manni Mulligan sprechen. Gewöhnlich hockte er in seiner Teichhütte an der 14. Aber seit ich in Bauernburg war, hatte ich ihn noch nicht gesehen….
(weiterlesen in „Achtung Golfer! Schlägertypen in Wald und Flur“.

*HolistischesGolfmandala