Den FALK im Nacken

Erinnerungen von Eugen Pletsch

In querFALK, Herausgegeben von Caroline Hartge und Ralf Zühlke (Verlag Peter Engstler) hatte ich vor Jahren einen Beitrag mit dem Titel „Den Falk im Nacken“ veröffentlicht, der 2020 auch in Mein Falk-Projekt zu finden ist. Dieser biografische Text handelt von meiner Odyssee durch die Subkultur der Jahre 1960 bis 1990 und zum Ende hin von meiner Begegnung mit Helmut Salzinger und der Gruppe 60/90…


Jeder, der dabei war weiß, was der evolutionäre Treibsatz unserer Generation war. Heller als tausend Sonnen[1] strahlten wir, die wir damals alle – fast – erleuchtet waren. Von Mathias Bröckers fand ich in Humus auf Seite 12 eine Textpassage, die meine Perspektive stützte. Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang: die ‚hedonistische linke Internationale‘, die Helmut Salzinger propagierte, was ihn – laut Bröckers – ‚von den 68er Theoretikern eigentlich zum interessantesten und spannendsten‘ machte.

Geraume Zeit dachte ich darüber nach, was mein Beitrag zu diesem Buch sein könnte. Ich umkreiste das mir abstrakte Thema wie ein Falke, der am Boden im Kreis humpelt und nicht hochkommt, weil er sich mit einer Kralle in dem schweren, patschnassen Pullover seiner Erinnerungen verhakelt hat. Der Begriff ‚hedonistische linke Internationale‘ hat mir weitergeholfen, obwohl ich damals – weiß Gott – kein Theoretiker war. Eher eines dieser Kinder, die, fasziniert von den Männern mit den langen Haaren und Bärten, im BDS (Bund demokratischer Schüler) aktiv waren, der damaligen Jungschar des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Mit glühenden Worten vertrat ich die Phrasen anderer Leute, die sie vermutlich selbst nicht verstanden.

Irgendwann jedoch, nachdem der dritte Joint in mir implodierte, stand ich auf der Kippe, und als ich dann meinen ersten Weltraumflug (Purple Haze) absolvierte, galt ich bei den Gießener Genossen endgültig als arme, entpolitisierte Kreatur.

Der Schüler wurde zum Hippie und irgendwann zum ko(s)mischen Reisenden. Die Zeit, in der ich als fahrender Sänger unterwegs war, beschrieb ich in meinem autobiographischen Liederbuch Zwischen Sternenstaub und Hühnerdreck. Ich war dreißig Jahre ‚on the road‘, als Tramp, als Hippie, als Liedermacher, später als Handlungsreisender und dann, als ich mein Yoga, meinen ‚Do‘ oder ‚Weg‘ fand – als Golfer.

Heute reise ich kaum noch. Ich habe mich verwurzelt, eingegraben und mag nicht mehr abheben, geschweige denn zu den Sternen fliegen. Ich arbeite, koche, schreibe, male, gehe spazieren, spiele Golf, rede mit meinen Kindern, führe ein ruhiges Leben und habe langsam das Gefühl, dass das überdrehte Rad meines Lebens, dieser hektische Brummkreisel meines Seins, langsam in mir zur Ruhe kommt. Aber ich schaue gerne denen zu, die sich zu den Sternen aufmachen, die ihren Geistscheinwerfer zum Himmel richten, die den Kosmos ihres Lebens voller Leidenschaft erobern wollen, freie Falken ohne Horizont. Und wenn mir jemand etwas von der Weite des Himmels erzählt, während er wild mit den Flügeln schlagend am Boden festhängt und im Kreis rudert, dann muss ich grinsen und an mich damals denken.

Ich (Jahrgang 1952) wuchs im Wirtschaftswunderdeutschland in Mittelhessen auf. Vor meinem inneren Auge sehe ich noch die Ruinen, in denen wir herumgeklettert sind. Ich verstand damals nicht, was die schwarzen Zähne zwischen den wiederaufgebauten Häuserreihen bedeuteten. Der noch allgegenwärtige Krieg war mir ein abstraktes Wort, während Helmut und MO diese Zeit bewusst erlebt hatten. Besonders MO, die gerne von der freien Nachkriegszeit, dieser herrlichen, kurzen Epoche des Matriarchats schwärmte, um dann über die Dummheit der Frauen zu schimpfen, die sich von den Kriegsheimkehrern wieder in den häuslichen Käfig hatten zurücktreiben lassen.

Meine Familie war bürgerlich. Mein Opa war Handwerker, mein Vater wäre gerne Lehrer geworden, aber er fügte sich und wurde mit der Übernahme des großväterlichen Betriebes mittelständischer Unternehmer. Er fand darin kein Glück, aber wir Kinder hatten ein gutes, warmes Heim.

Das Haus, in dem wir zur Miete wohnten, gehörte einer Familie Leidel. Dr. Hans Joachim Leidel, Arzt, Schriftsteller, Pazifist und Sonderling, war ein maßgeblicher Einfluss meiner Kindheit. Er war umgeben von geheimnisvollen Geschichten und er lehrte mich Dinge, die mein Vater nicht zu formulieren gewusst hätte. Der trug Verantwortung für mehr als fünfzig Arbeiter und Angestellte und nachts, wenn Dr. Leidel beim Rotwein Gedichte vorlas, saß mein Vater still in einer Ecke und schwor sich, seinem Jungen das zu lassen, was ihm sein Vater verwehrt hatte: die Freiheit des Geistes. Den Blick vom Himmel. Den Flug des Falken durch die Welt der Phantasie.

Täglich besuchte ich Dr. Leidel, wenn er im Garten buddelte, alte römische Scherben zusammenklebte oder seltsame Geschichten schrieb. Er inspirierte mich zu zeichnen und erzählte mir aus seiner Zeit als Lagerarzt im Krieg. Er zeigte mir Bilder; Berge toter Juden, und er versuchte, mir Ansätze kritischen Denkens zu vermitteln. Leidel war ein unbequemer Mensch, der in diesem Archipel einer hässlichen Universitätsstadt voller Kleingeister und Intrigen in der Verbannung lebte.

Der Keller, die Garage, der Speicher, das ganze Haus war gefüllt mit Tausenden von Büchern. Uralte Bücher, zum Teil noch mit Schweinslederrücken, die vermoderten. Im Keller und Hausflur allgegenwärtig Stapel medizinischer Zeitschriften. In Leidels Arbeitszimmer waren alle Wände bis zur Decke voll mit Büchern. Alle Bücher dieser Welt, wie mir damals als Kind schien.

Im Frühling kamen die Klopftage. Dann staubte er auf der Veranda alle Bücher ab, indem er jeweils zwei Schwarten zusammenschlug, was im ganzen Haus als Klopfen zu hören war. Danach blies er den Staub ab und stellte die Bücher zurück. Das machte er tagelang.

Als ich dreizehn Jahre alt war, gab er mir Lobsang Rampas damaligen Bestseller Das dritte Auge zum Lesen. Diese Einführung in die geheimnisvolle Welt des tibetischen Lamaismus fesselte mich augenblicklich. Es war mein erster Kontakt mit dem Buddhismus. Dr. Leidel starb früh, nachdem er seinen Todeszeitpunkt exakt vorausgesagt hatte. Ich trauerte leise für mich und wartete auf ein Zeichen des Himmels.

Das kam, als ich erstmals Bob Dylan hörte, was mein Lebensgefühl schlagartig veränderte. Natürlich lernte auch ich Gitarre spielen und Dr. Leidels Sohn nahm mich mit zum Ostermarsch nach Frankfurt, wo Joan Baez spielte.

Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich im Schaufenster der Ricker’schen Buchhandlung in Gießen, die von Leidels Freund und späterem Verleger Gideon Schüler betrieben wurde, das Buch Gammler, Zen und hohe Berge von Jack Kerouac entdeckte, erschienen in einer Taschenbuchausgabe bei Rowohlt. Wie bei Dylans Liedern verstand ich eigentlich kein Wort vom Inhalt, aber ich verstand die Botschaft. Es war aufregend, lebendig anders und eine Übertragung des Geistes, den jene Adepten meiner Generation erhielten, die dafür offen waren. Und ich hatte Glück, denn das Buch schickte mich auf einen guten Trip. Ich begann mich für Schlafsäcke, Berge, Natur, Zen und Mädchen zu interessieren. Mein Held war der Dichter Gary Snyder, der als Japhy Ryder in diesem Buch eine Hauptrolle spielte.

Jack Kerouacs Tristessa oder W.S. Burroughs Naked Lunch zum Einstieg, und ich wäre vermutlich in die melancholische Welt der Junkies abgetaucht und nie mehr über Wasser gekommen. Natürlich versuchte auch ich irgendwann wie Old Bull Lee dazuliegen, die Figur in Kerouacs On the Road, die von Burroughs inspiriert war, um tagelang auf meine Fußspitzen zu starren. Ich schaffte das aber nur fünf Minuten, dann sprang ich auf und raste wieder los, rastlos und verrückt, und das rettete mir das Leben.

Natürlich las ich auch Jack London und wurde Tramp. Mein Glück war der Straßenrand. Blues singen und mit der Mundharmonika Autos heranlocken. Unter ‚Gammlern‘ und ‚Hippies‘ an der Straße kapierte ich schnell, warum manche Hitchhiker tagelang an einer Auffahrt in Südfrankreich herumhängen mussten und nicht weiter kamen, während andere, wie ich, sofort mitgenommen wurden. Beim Trampen muss man clean rüberkommen und Interesse wecken – dem Fahrer einen Grund geben, um anzuhalten. Und dann, wenn man im Wagen saß, musste man etwas zu erzählen haben, damit der Fahrer wach blieb. Für eine gute Geschichte gab es Einladungen zum Essen, Übernachtungen, lange Lifts und manchmal auch die Bereitschaft, einen Umweg zu fahren. Ich trampte durch Westeuropa. Meine schnellste Reise war: 1. Tag Amsterdam, 2. Tag Brüssel, 3. Tag Paris, 4. Tag Marseille, 5. Tag Cassis (ein Tag Urlaub am Strand), 6. Tag Grenoble. Jeden Tag schickte ich eine Postkarte an meine Eltern. Als ich am 7. Tag zu Hause einlief, war noch keine Karte angekommen. Ich war ziemlich schnell, weil ich überlegte, wann und wo ein Autofahrer halten konnte und das Trampen war für mich reine Lust. Ich wollte nur unterwegs sein. Manchmal, samstags, trampte ich von Gießen nach Frankfurt und zurück. Ich ging nicht in die Stadt, ich wollte nirgendswo hin – nur unterwegs sein. Bewegung in einer starren Welt, die sich mit der Studentenbewegung rapide zu verändern begann.

Ich suchte Gott, die Wahrheit, eine Antwort und kam zu Frater Marianus, damals der letzte Einsiedler der Alpen, wo ich als erster Gast seit dreihundert Jahren in der Klause wohnen durfte, um die‚Väter der Wüste‘ zu studieren. Ich trampte zu Oskar Kiss Maerth, der gerade mit seinem Buch Der Anfang war das Ende[2] Aufsehen erregt hatte, um von diesem alten Business-Yogi, der in einem Schloss am Comer See lebte, etwas über den Ursprung der Menschheit zu erfahren. Ich lief endlos durch den Tessin, bis ich die Casa Montagnola fand, wo Hermann Hesse Klingsors letzter Sommer geschrieben hatte. In der Schweiz fragte ich den damaligen Sekretär der theosophischen Gesellschaft Paul Häusle, was er von LSD halte. ‚Kunstdünger‘, meinte der alte Mann. Ich schrieb später ein Lied, Kunstdüngergeneration

Beim Steppenwolf-Konzert in Frankfurt lernte ich Werner Pieper kennen, den ich die nächsten Jahre bei seinen Projekten, den Grünen Zweigen sowie den Magazinen Kompost und Humus begleitete. Mit den harten Drogen war die Release-Bewegung entstanden, eine Selbsthilfeorganisation von Drogenabhängigen; auch sie hatte ihren radikalpolitischen (Patientenkollektiv) und ihren hedonistischen Arm (Grüne Kraft). Pieper lebte eine Zeitlang im legendären Release in Highdelberg. Helmut war in Hamburg Release-ambitioniert und ich war Gründungmitglied der Gießener Teestube, einer Drogenberatungsstelle, die in ihrer ersten psychedelischen Epoche durch die künstlerische Arbeit von Bernward Spiegelburg das schönste öffentliche Setting östlich von Amsterdam hatte.

Häufige Gäste, besonders in der kalten Zeit: die Gründerväter der Gruppe Elster Silberflug Uli Freise, Diethard Hess und Hartmut Hoffmann. Mit Bernward Spiegelburg, Thomas Ziebarth und dem früh verstorbenen Peter Markl (vom dem 2005 posthum eine CD erschien) waren sie die Ur-Elstern, die in einem abgelegenen Hofgut diese wundersam mystische und damals zugleich hochmoderne Musik schufen, die diese Gruppe später bundesweit bekannt werden ließ.

Auf dem Weg nach Indien blieben die Elstern in Heidelberg hängen. Barby Grosse und Lutz Berger schlossen sich der Gruppe an und der Rest wurde Musikgeschichte. Deutschfolk nannte man das damals. Die Elstern waren eine große Familie befreundeter, junger Musiker und Vaganten und manchmal standen ein Dutzend von ihnen auf der Bühne. Nach einer langen psychedelischen Nacht fragte mich Diethard Hess, ob ich Lust hätte, mit Thomas Ziebarth unter dem Namen Krauts Zupforchester eine Deutschlandtour mitzumachen, während der Rest der Truppe als Elster Silberflug Konzerte in England wahrnehmen wollte. Ich willigte ein.

Wir zogen auf eine einsame Lichtung im Wald, wo wir etwa eine Woche unter freiem Himmel an einem Feuer kampierten. Wir spielten Tag und Nacht, angeheizt aus dem Treibstofftank des Universums und den gütigen Gaben eines Shiva-Sadhus, der uns als psychedelischer Zeremonienmeister begleitete. Ich habe keine Erinnerung mehr daran, wann wir je gegessen hätten. Aber in dieser Woche lernte ich mehr als dreißig Lieder aus fünf Jahrhunderten: Vagantenlieder, Moritaten, deutsche Mystik, selbstkomponierte Tänze und Folksongs.

Dann gingen wir auf Deutschlandtour, wurden bei unserem ersten Auftritt im Nörgelbuff in Göttingen um die Gage gelinkt und spielten dann in Clausthal-Zellerfeld vor ca. achthundert Bergbaustudenten im Audimax. In Stuttgart, nach einem Konzert, traf ich meine spätere Frau Anita in einem Park und irgendwann, zum Abschluss unserer Reise, standen wir auf einer Bühne vor dem Bonner Rathaus bei irgendeinem Sommerfest vor Tausenden von Menschen und spielten Drei Chinesen mit dem Kontrabass, was zu unseren Instrumenten passte: Thomas spielte die Bouzouki, Diethard Hess seinen einzigartigen mexikanischen 6-Saiten-Bass und ich die Gitarre.

Irgendwann kamen die anderen Elstern aus England zurück. Plötzlich waren wir zu viele auf der Bühne. Ich hatte, wie ich damals meinte, genug gelernt und tingelte für mich durch die Einkaufsstraßen. Die Elstern nahmen bei Hansa in Berlin (‚at the wall‘, wo David Bowie sein Album Heroes produzierte) ihre erste Platte auf.

Irgendwann anlässlich des fünfzigsten Grünen Zweiges veranstaltete Pieper ein großes Fest, zu dem viele namhafte Musiker dieser Zeit unplugged spielten. Das Konzert wurde als besagte Musik aus dem Odenwald[3] auf Schallplatte veröffentlicht; heute ein teures, in England gesuchtes Sammlerexemplar.

Tom Klatt rief zum Festival of Fools nach Recklinghausen, Top Act war Django Edwards. Pieper und ich organisierten als Flying Assholes die Rocker Security. Ich fuhr mit Pieper auch nach Bern, wo wir Sergius Golowin, Walter Wegmüller und den Zigeunergeiger Baaschi trafen. (Jahre später in Basel nahm ich an einem Workshop mit John und Tony Lilly teil, fuhr danach nach Luzern, stieg auf einen Berg und stürzte ab.)

In Gießen traf ich jenes Mädchen aus Stuttgart wieder, schwängerte sie und wir fuhren zusammen nach Indien, wo ich als Sadhu leben wollte. Es wurde eine existenzielle Erfahrung, bei der mir klar wurde, dass Sadhu werden und gleichzeitig ein Kind bekommen nicht das optimale Timing war. Wir wurden beide sehr krank, ich hatte meinen ersten Nervenzusammenbruch in einem indischen Zug und Deutschland schien uns in unseren Träumen wie das gelobte Land. Irgendwie schafften wir es zurück, wurden von unseren Familien freundlich aufgenommen, heirateten, wie sich das damals gehörte und im Sommer 1974, ich war gerade zweiundzwanzig Jahre alt, wurde mein Sohn Ludwig Brimbadil geboren. Werner Pieper wurde Patenonkel.

Vor ,Indien‘ hatte ich ein paar Semester Pädagogik studiert. Jetzt, nur mit mystischen Flausen im Kopf, sollte ich eine Familie ernähren. Drei Monate Probezeit schaffte ich bei meinem ersten Job als Erzieher in einer jugendpsychiatrischen Anstalt. Ich las Summerhill von Alexander Neill und wurde gefeuert. Wir zogen in ein verlassenes Haus in einem hessischen Dorf, begannen einen großen Garten zu bewirtschaften. Pieper hatte ein Zimmer bei uns, wo er aber nur selten war. Ich lebte in einer phantastischen Welt, in der Buddha bei der Müllabfuhr arbeitete, Krishna im Edeka Milch verkaufte und Castaneda an der Bushaltestelle gegenüber unserem Haus saß und einen Schatten über seiner rechten Schulter beobachtete, der immer länger wurde: den Bus.

H.P. Blavatsky drehte Gurdjieff eine Zigarette, was meiner Frau nicht passte. Rudolf Steiner werkelte in der Küche und suchte Vollkornmehl für eine Brennnessel-Pizza, während Tim Leary mit dem Schäufelchen einen Haufen Nagual-Kotze vom Teppich kratzte.

Ich hatte heftige indische, buddhistische, indianische, taoistische und natürlich Zen-Schübe. Ich las Han Shan, besang den Mond, versuchte meinem sechs Monate alten Sohn beizubringen, die 10 Ochsenbilder in Tusche zu malen und brabbelte den ganzen Tag wirres Zeug, über die innere Mitte, das Wesen der Stille und Avalokiteshvara auf dem Fahrrad.

Manchmal wechselte ich meine spirituelle Gedankenwelt derart schnell, dass meine Frau kaum noch nachkam und nur an der Farbe meiner Klamotten erkennen konnte, wie ich drauf war. Sollte sie heute indisch vegetarisch kochen oder musste wieder ein Büffel erlegt werden?

Traditionelle Indianer, die nach Europa kamen, empfahlen uns, „unsere weisen Männer und Frauen“ zu suchen. So lauschten wir den alten Forstmeistern, Anthroposophen und jugendbewegten Altvorderen. Die politische Linke tabuisierte grundsätzlich Gespräche mit alten Männern, wenn sie im Dritten Reich irgendeine Rolle außerhalb des Widerstandes gespielt haben könnten. Mein Interview mit Professor Wirth, der sich mit Urgemeinschaftsforschung befasste, führte dazu, dass Piepers Bücher und Hefte von der Mehrzahl linker deutscher Buchläden boykottiert wurden. Aber Salzinger las weiter den ‚Kompost‘, die mittlerweile auflagenstärkste Alternativzeitung im deutschsprachigen Europa.  (…)
Als Pieper Deutschland zu Fuß von Nord nach Süd durchwanderte, war ich für eine Ausgabe des Kompost zuständig, Nr. 25, die Rotkohl-Ausgabe; so genannt, weil Anita das Coverbild, die Trilogie der Welt, vom Querschnitt eines Rotkohls abzeichnete. Ich lernte von Pieper, wie man Schnipsel, Bildchen und Artikel auf große Pappen klebte, die dann gedruckt wurden. Überall, wo im Layout Lücken waren, dichtete ich sie zu. Dichtung ist für mich heute noch ein Synonym für ‚weiße Löcher füllen‘.

Es war die Zeit der Landkommunen. Hadayatullah Hübsch hatte seinen Heidi Loves You Shop in Frankfurt schon wieder geschlossen, Päng-Herausgeber Raymond Martin, egomanisches Enfant terrible der Szene, residierte mit seinen Kommunarden auf der Titelseite des Spiegel. Ronald Steckel hatte in Berlin die fünfte Nummer der Love herausgebracht. Es gab Che Urselmanns Verlag und Zero – Zeitschrift für ganzheitliches Lesen im Zero Verlag, Jünemanns Middle Earth in Frankfurt und Josef ‚Bibi‘ Wintjes’ Ulcus Molle Reader in Bottrop.

Rolf Brück, der später zum Maro-Verlag ging, und Bernd Brummbär, Herausgeber der Head Comix von Robert Crumb, waren sporadische Frankfurter Kontakte.

Auf meinen Wanderungen im Vogelsberg entdeckte ich am Waldrand einen achteckigen Turm, den der An­thro­posoph Kurt Theodor Willmann in den dreißiger Jahren eigenhändig aus dem Vogelsberger Basalt geschlagen hatte. Dieser ‚Frankenschlag‘ wurde für die nächsten Jahre unsere Heimat. Hier lebten wir, ohne fließendes Wasser und ohne Strom, als Totalaussteiger, etwa zwei Kilometer vom nächsten Ort entfernt, auf einem Hügel am Wald. Ich wollte Henry David Thoreaus Idee von Walden oder Leben in den Wäldern in der Familie nacherleben, wobei Otto Mühls AAO (Aktionsanalytische Organisation) damals schon ihre Schatten über Europa warf und wir ‚Kleinfamilienwichtel‘ uns ängstlich und verschämt hinter Felsen versteckten. Wir hatten ein großes Stück Land, das wir zum Teil urbar machten. Das Heu der Wiese überließen wir den Nachbarkommunen, die uns dafür Käse und Brot gaben. Mit dem Maler Karl Möller gründete ich die Vogelsberger Kunstgenossenschaft, eigentlich eine Einkaufsgemeinschaft, über die unsere Familien Biogetreide bestellten. Der Altenfelder Hof buk jahrelang das berühmte Brot, das nach Frankfurt in Daniel Cohn-Bendits Distel-Bioladen geliefert wurde. Statussymbol dieser Zeit waren Tennessee Wiggler, fette Regenwürmer, die man Gästen stolz vor die Nase hielt, denn der erste Gang mit Besuchern führte grundsätzlich zum Komposthaufen. FALK-Veteran Helmut Höge hat diese Zeit unter seinem Autorenpseudonym Agentur Standard Text in seinem Buch Vogelsberg[4] beschrieben.

Meine Tochter Greta Li Gotami wurde mit der aufgehenden Julisonne im ‚Frankenschlag‘ geboren. Die Hebamme schaffte es gerade noch im letzten Moment zu uns auf den Berg, und ich vergrub die Nachgeburt im Komposthaufen, auf dem im nächsten Jahr besonders gutes Marihuana wuchs.

Von dort aus brach ich als ‚Oigen, Sänger vom Frankenschlag‘ zu meinen Raubzügen auf. Ich hatte mittlerweile ein eigenes Programm: Lieder von den Elstern, Folksongs von Dylan und Donovan und immer mehr eigene Lieder. Ich konnte vor alten Damen herrlich Dat du min Leevsten büst schmachten, hatte kein schönes, aber ein lautes Organ und verdiente bis zu hundert Mark die Stunde, wenn ich an brüllendheißen Sommerabenden an der Hauptwache in Frankfurt oder an einem bitterkalten Wintertag auf dem Nikolausmarkt in Stuttgart meine Lieder sang. Ich stand mit meiner Gitarre an der Hauptwache auf der B-Ebene und sang, dass die Sonne durch die Betondecke schien. Die Nachtausgabe der Abendpost vermerkte damals in der Lokalrubrik: ‚Er ist wieder da!‘ Nach drei Stunden war meine Stimme fertig. Sozusagen aus stimmökonomischen Gründen wurden meine Ansagen immer länger. Die Menschentraube um meinen Gitarrenkoffer wollte Geschichten hören und dafür gaben sie Geld, das wir dringend brauchen konnten. Wir lebten damals zu viert von kaum vierhundert Mark im Monat.

Die psychedelische Revolution war der Nährboden der Landkommunenbewegung und diese, eng verzahnt mit der Antiatomkraftbewegung, bildete das Rückgrat dessen, was sich ursprünglich unter dem grünen Banner sammelte. Kritische Anthroposophen, der Achberger Kreis, Robert Jungk, Josef Beuys, den ich in Kassel und Gießen erlebte, Philosophen, Künstler und weitsichtige Geister fanden sich zusammen, um sich über eine politische Gegenbewegung Gedanken zu machen. Tausende von jungen Menschen hatten auf ihren inneren Reisen erfahren, dass das Leben auf diesem Planeten ein einziges, vernetztes, sensibles Gebilde ist. Die Botschaft hieß: Gaia, das planetare Mutterschiff, retten. Und jeder machte sich auf seine Weise auf den Weg.

In Deutschland wurde das schön organisiert. Am 6. März 1983, nachdem klar war, dass es DIE GRÜNEN als Partei in den Bundestag geschafft hatten, standen wir noch begeistert auf der Bühne: Zeitenwende, Bernies Autobahn Band, Konstantin Wecker und viele andere Musiker, die die ‚Grüne Raupe‘ begleitet hatten, sangen The Times They Are A-Changing.

Mittlerweile lebte ich wieder bei Gießen, wo meine Kinder so eine Art Bullerbü-Kindheit hatten. Fast zwanzig Kinder auf einem großen Gutshof. Familien, jede für sich autark, ohne ideologischen Ballast, ohne gemeinsame Ökonomie, und das abendliche Zusammensein wurde allein von der Sympathie bestimmt. Es war nicht das erträumte Ökodorf, aber es war für Jahre real die beste Art, wie wir als Familie leben konnten.

Ich bemühte mich damals, als Mitglied des Naturschutzbundes und der Deutschen Ameisenschutzwarte, möglichst viele Gehölze anzupflanzen und wo immer ich hinkam, versuchte ich ein Loch zu graben, um einen Teich anzulegen. Ich nahm meine Aufgaben als Öko-Guerilla ernst, verfasste depressive Gedichte und erfand dabei den ungeregelten ‚Vogelsberger Kniddelhaiku‘:

                 Gras, Gras, entlang der Straß’

                 nach Watzenborn-Steinberg.

                 Unterm Mäher vergehst, an der Straße verwest’,

                 dein Leben ist kurz und allen ist’s schnurz.

Wir brauchten dringend Geld. Ein Unternehmer mit einer Firma für Spiel- und Lehrmaterial, der mich bei einem Auftritt auf der Straße erlebt hatte, bot mir einen Job an. Er hielt mich für den geborenen Verkäufer, denn wer so schlecht singt und Gitarre spielt und dabei so gut absahnt, der muss verkaufen können, meinte er. Er hatte Recht. Nach drei Monaten war ich sein bester Verkäufer und plötzlich verdiente ich wie ein Bundesligaprofi. Ich wurde nervös wie ein Rennpferd, hatte zwar noch die Gitarre im Auto, aber da ich morgens in irgendeiner Stadt beim Kunden sein musste, blieb keine Zeit mehr für lange Nächte mit schönen Geschichten. Nach einem Jahr stieg ich wieder aus.

Ich hatte genug verdient, um unser Projekt ‚Stoff aus Naturfasern‘ anzuschieben. Der Stoffversand war Anitas Idee. Schon im Vogelsberg hatte sie begonnen, die deutsche Öko-Szene aus den Restbeständen alter Webereien mit Naturstoffen zu bedienen. ‚Stoff aus Naturfasern‘ ist heute einer der ältesten Ökobetriebe Deutschlands, auch wenn es keine Öko-Szene mehr gibt. Unter dem Namen Anita Pavani Stoffe ist die Firma mittlerweile weltweit ein Geheimtipp unter Gewandmeistern, die Oper, Bühne und Filmproduktionen wie Harry Potter mit seltenen, magischen Stoffen ausstatten. – 1980 erschien Turtle Island von Gary Snyder auf Deutsch.[5] Darin fand ich das Gedicht Auf den San Gabriel Bergrücken (Seite 52. Es beginnt: ‚Ich träume von – / weichen, weißen, waschbaren Arbeitskleidern …‘). Ich las das Gedicht gerade im Büro, als es klingelte und der Lieferant einige Ballen eines herrlichen, weichen, weißen Baumwollstoffes brachte. Ich rief Frank Schickler an und sagte, Snyders Traumstoff wäre gekommen. Er gab mir dessen Adresse, wir schickten ihm Stoff und der Held meiner Jugend Japhy Ryder nähte sich davon Overalls. Wir schrieben uns noch ein paar Mal.

Die subkulturelle Szene im Deutschland der siebziger Jahre war wie eine große (verstrittene) Familie, wie ein Clan. Durch meine Zusammenarbeit mit Werner Pieper, meine Mitarbeit beim Kompost, aber auch durch meine Reisen als ‚fahrender Sänger‘ entstanden viele Kontakte zu Kommunen, Familien und Gruppen.

Die Landkommune-Bewegung war damals eng vernetzt mit den Betreibern des ökologischen Landbaus, den die Anthroposophen (die als etwas vertrocknet galten) dominierten. Die ersten Ökoläden entstanden, bundesweit bildeten sich Einkaufsgenossenschaften durch Leute, die zu der Erkenntnis gelangt waren, dass eine gesunde Landwirtschaft und eine verbesserte Ernährung mit wahrhaftigen Lebensmitteln eine entscheidende Grundlage zur Gesundung des Menschen und der Erde darstellt. Diese Leute wurden dann später als sogenannte Körnerfresser denunziert und heute haben wir den Salat: massenhaft ‚Volkskrankheiten‘, Überernährung, Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Die Menschen haben die Eigenverantwortung abgegeben und es wurde ein Riesengeschäft. Jetzt sind alle krank und pleite.

Die große, jährliche Erweckungsparty der Alternativszene war zu dieser Zeit das legendäre Pfingsttreffen, veranstaltet von der evangelischen Akademie in Hofgeismar. Hier fand die Szene der frühen siebziger Jahre unter der weisen Administration von Frau Dr. Ingrid Riedel ihre Stimme. Hier lernte ich den Schriftsteller Reimar Lenz kennen und Che Urselmann, der den Zero-Büchertisch machte. Es gab immer das offizielle Programm, wo die Großkopferten der Szene ihren Aufritt hatten, sei es Dieter Duhm, Hadayatullah Hübsch (damals mit Perserkäppchen und pakistanischen Begleitern) oder all die vielen anderen, die damals mit Büchern, Projekten und Ideen von sich reden machten. Ich lernte Gerriet Hellwig kennen, der mit seinem Projekt der ‚alternativen Kooperation‘ ein neues Konzept der Vernetzung von Mensch und Kompetenz entwarf. Ich traf den eingeborenen Worpsweder Künstler Matthias ‚Regenmacher‘ Kaufmann oder Julian Pawlik, der vom Topmanager zum Biotherapeuten transformierte, Carl Ludwig Reichert, Erfinder des deutschen Mundartrock und bayrischer Gelehrter. Viele dieser Namen waren mir für lange Jahre (oder sind es sogar bis heute) liebe Freunde. Neben dem offiziellen Programm gab es die Frisbee-Szene in dem riesigen Park, wo die Clans wie Löwenrudel beieinander lagen und neueste Ernährungsdogmen ausfochten. Nachts begannen endlose Trommel- und Trancesessions, und alles noch richtig selbst mit der Hand gemacht, liebe Kinder.

Draußen bei der Garderobe im Flur, wo die Akustik am besten war, saß ich meist mit meiner Gitarre und spielte Lieder und Balladen und zum Abschluss des Abends meine Linsensuppensutra, ein Zen-Lied, das – meist – zur augenblicklichen Erleuchtung führte.

Jahre später war Gerriet Hellwig Modemacher in Düsseldorf und ich, der ich einen Bus hatte, wurde sein Vertreter. Er machte verrückte Klamotten und ich fuhr durchs Land und verkaufte sie. Eine Zeitlang lief es sehr gut. In meinem Bus hatte ich meine Gitarre und egal, wo ich in Deutschland hinkam: es gab immer eine Gruppe oder Familie, die einen warmen Platz und eine Mahlzeit für den Barden hatte. Gute alte, irische Tradition: lange Nächte mit Geschichten, die wir uns erzählten, denn die meisten von uns hatten damals – wie Salzinger – ihren Fernseher aus dem Fenster geworfen oder hatten gar keinen, wegen der Kinder. Wenn ich vorbei kam, wurde gegessen, geraucht, getrunken und erzählt.

Im tiefen Odenwald, hinter Löhrbach über den Berg im Eiterbachtal, standen die Tipis der Lü-Leute, einer fränkischen Korbflechter-Gemeinschaft, die für mehrere Jahre mit Zirkuswagen und Indianerzelten in Deutschland unterwegs war. Ob ich sie in ihrem Winterlager traf oder beim großen Sunwheel Gathering[6]: wann immer ich kam, hatten sie ein Tipi für mich, wenn ich nicht im Bus schlafen wollte. Die Lü-Leute bauten große Öfen und kochten auf Festivals und bei Veranstaltungen. Sie waren Deutschlands Hog Farm-Kommune. Sie lebten mit ihren Kindern ganzjährig wie Nomaden im Freien, und wenn ich kam, pellte ich mich aus meinen schnieken Stadtklamotten, begrüßte die Kinder und dann gab es in einem mollig warmen Zelt oder Wagen süßen, schwarzen Tee, Geschichten und ‚Kräutelein‘, bis das Häuptelein zerbarst.

Spaak hatte einen großen Hof auf einer einsam gelegen Waldlichtung bei Langenschiltach im Schwarzwald. Hier fanden große Sommertreffen statt, Ferienlager für die Kinder unserer Familien oder die ersten Workshops unter Anleitung traditioneller Indianer, wie dem Lakota Brave Buffalo oder Philipp Deere. Der hatte das American Indian Movement (AIM) bei deren Auseinandersetzung am Wounded Knee als Medizinmann unterstützt und war nach Deutschland gekommen, weil man ihm ein neues Gebiss versprochen hatte, ein Versprechen, das der weiße Mann auch diesmal brach.

Durch meine berufliche Tätigkeit war ich ständig in ganz Deutschland unterwegs. Ich stellte Kontakte zwischen Gruppen her, erzählte den aktuellen Tratsch und Klatsch, brachte meine Geschichten unter die Leute, und nachts am Feuer rauchten wir und klimperten auf der Gitarre.

Im Schwäbischen leitete Julian Pawlik mittlerweile Bioenergetik-Workshops, im Fränkischen konnte, wer Mut und Nerven hatte, bei Raymond Martin[7] reinschauen. In München war Carl Ludwig Reichert meine erste Anlaufstelle, der die damals sehr populäre Radiosendung Zündfunk Nachtausgabe machte, in der auch ich eines Nachts meine Lieder sang und Geschichten erzählte. Ich genoss das Vagabundieren lange Zeit, aber gleichzeitig hatte ich mein Brot zu verdienen. Die Arbeit wurde immer härter, das Fahren stressiger, mein Pensum immer größer und mein Wunsch nach Ruhe auch. So wie das, was man mal ‚Szene‘ nannte, zerfiel, so zerfiel auch irgendwann mein Bedürfnis, ständig irgendwo mit irgendwem zu ratschen. Ich war oft müde, ging immer häufiger in Pensionen zum Übernachten und genoss es, für mich zu sein. Ich brauchte die Ruhe, einfach um mich zu regenerieren.

Ich war dadurch oft wochenlang für mich allein, und begann wieder zu lesen. Neue deutsche Autoren kannte ich kaum. Bei Pieper, der häufiger mit Walter Hartmann arbeitete, sah ich erstmals Gasolin 23 und die ersten FALK-Hefte. Jonas Überohr [Helmut Salzingers Pseudonym für seine Kolumne in der Musikzeitschrift Sounds] war mir ein Begriff. Charles Bukowski, der mir John Fante und Knut Hamsun schmackhaft machte, habe ich leider erst sehr spät entdeckt. Nachdem ich Bukowski gelesen hatte, begriff ich überhaupt erst, warum die deutschen Autoren plötzlich alle so einen auf Macker machten. Jeder wollte die härteste Sau sein, was bei manchen Knaben nun wirklich komisch rüberkam. Offensichtlich hatte jeder letzte Nacht in einem Kühlraum betrunken mit einer tiefgefrorenen Schweinehälfte erst Sex und dann eine Prügelei gehabt. Die meisten Sachen, die mir in die Finger kamen, mochte ich nicht. Kein Humor. Grottenlangweiliges deutsches Mackertum. Einen Salzinger oder Köppen kannte ich noch nicht, geschweige denn die neue Generation der Slam Poeten, die ihr Publikum mit hammerstarken Texten umblasen und nicht diese langweiligen barocken Nebelschwaden der Selbstbeweihräucherung zelebrieren, die ich früher auf Lesungen erleiden musste. Mit anderen Worten: eine Weile war ich froh, dass mein Bezug zu den ‚deutschen Beats‘ denkbar lose war.

Dann kam Tim Leary aus dem Knast, und seine erste Auslandsreise führte ihn zu einer großen Tagung nach Deutschland. Pieper und ich waren seine Roadies und fuhren Leary in meinem roten Bus herum.
Im Herbst jenes Jahres, 1985, fuhr ich nach New York, verkrümelte mich aber schnell nach Colorado, wo der Tao-Meister Gia Fu Feng eine Gruppe junger Deutscher trainierte. Gia Fu bat mich, einige Hühner zu schlachten, wofür seine Jünger offensichtlich schon zu feinstofflich waren. Auf dem Weg zu den Hopi-Indianern, wohin mich Großmutter Carolyn Monongye zuvor auf der Buchmesse eingeladen hatte, holte ich mir am Wolf Creek morgens in der Kälte beim Schultern meines zwanzig Kilo schweren Lowe Liberty-Rucksacks meinen ersten Hexenschuss, den ich bei den Hopi auskurierte. In Los Angeles wartete ich im Alta Cienega Hotel darauf, dass Tim Leary vom Thanksgiving-Essen bei seinen Schwiegereltern zurückkommen würde. Ich verbrachte diese Tage in Bearnie’s Beanery, einer Kneipe, vor der Bukowski ausdrücklich gewarnt hatte. In San Francisco schoss mein Gastgeber Tom Ruddock, ein Kumpel aus Heidelberger Tagen, ein Bild von mir vor dem City Lights Bookshop und vor der Free Clinic im Haight Ashbury-Viertel. Ich hätte Shunryu Suzuki besuchen sollen und mein Leben hätte sich vielleicht voll­kommen verändert, aber ich wusste damals noch nichts von dem Meister, der den Zen in den Westen gebracht hatte, und selbst Baker Roshi[8] habe ich erst Jahre später kennengelernt. Tom Ruddock konnte sich achtzehn Stunden am Tag Basketball reinziehen, während ich Briefe schrieb. Dann hing ich wieder ein paar Tage bei Tim Leary in Hollywood herum und hatte grässliches Heimweh nach meiner Familie. Damals spielte ich noch kein Golf. Mein Leben hatte noch keinen Sinn. Ich flog zurück und war Weihnachten zu Hause.

Eines Tages Ende der achtziger Jahre, zurück aus den Staaten, fuhr ich mit Pieper nach Norden. Wir besuchten den ‚Regenmacher‘, der am Weiherberg in Worpswede lebte, dann fuhren wir erstmals nach Odisheim, Helmut und MO Salzinger besuchen. (…)

Michael Kellner schaute in dieser Zeit öfter herein. Das war um 1990 herum, als die Gruppe 60/90 entstand. Helmut schenkte mir alle FALK-Ausgaben, seine anderen Bücher und lud mich ein, zur Ausgabe von Gate [d.i. FALK/Neue Folge Nr. 3] ein Gedicht beizusteuern. Ich schrieb, erstmals seit langer Zeit, ein Gedicht. Ich weiß nicht, was die anderen davon hielten, aber ich mochte es. Es heißt Der gelbe Engel und handelt von Erleuchtung und dem ADAC. Als ich die anderen Gedichte in dem Heft las, wurde mir (wieder mal) bewusst, dass ich als ernster Autor keine Chance hatte.[9]

Zu der Zeit dieser Projekte wie FALK bzw. bei deren Produktion war ich nicht dabei. Ich nahm damals, von Salzinger protegiert, an manchen Treffen der 60/90-Gruppe teil und war bei dem obligatorischen Besäufnis nach der Lesung mit Reinhard Heß und Theo Köppen für die Blues-Session zuständig.

Ansonsten war ich mehrmals im Jahr bei MO und Helmut, um die beiden ein bisschen von Helmuts Krankheit abzulenken, die ihn auf immer neue Weise traktierte. Jahrelang musste er zweimal die Woche zur Dialyse nach Cuxhaven gefahren werden, bis ihm dann ein Blutaustauschgerät in Odisheim zur Verfügung stand. Es war eine endlose Quälerei, die er tapfer ertrug. Meine größte Freude war, wenn ich ihn zum Lachen bringen konnte. Oder, wenn er mit seinen langsamen, wohlüberlegten Fragen versuchte, etwas aus meinem Leben zu erfahren, das ihm, angebunden wie ein Uhu an der Jule, vorgekommen sein muss wie der freie Flug des Falken.

Mit großem Mitgefühl nahm er auch an meinen regelmäßigen Abstürzen teil. Aber dass ich immer wieder Aufwind unter die Flügel bekam, schien auch ihm bisweilen Mut zu machen. Helmut war kein Jammerer und selbst hinter seinem Leid lauerte stets ein feiner, blinzelnder Humor.

Uns verband eine sehr persönliche Beziehung, keine künstlerische, und darüber waren wir beide froh. Bis zu seinem Tod waren wir enge Freunde. Ich schreibe das sozusagen als Legitimation, denn bei FALK war ich kein Mitwirkender. Während in der HEAD FARM gefalkt wurde, düste ich, selber ein unsteter, bunter Vogel, durch die Welt. Ich war mit einer Menge von Dingen befasst, mit denen sich auch Helmut, aus einer anderen Perspektive, beschäftigte. Nachdem wir uns kennenlernten, wurden wir uns sehr nah, weil wir einander so gut ergänzten. Vielleicht hatte jeder etwas im Anderen, was er in sich vermisste. FALK war ein Bewusstseinszustand, den man besingen, beschreiben, mystifizieren – oder erleben konnte. Aber: ich war nicht dabei, als die Hefte gebastelt wurden und die Kollegen sich die Nächte um die Ohren schlugen, um Heftseiten zusammenzulegen.

Mit Helmut machte ich eine gemeinsame Wanderung. Tagelang beschäftigten wir uns mit allem, was ich von Japhy Ryder gelernt hatte, seit ich fünfzehn war: Ausrüstung kaufen, Rucksäcke stopfen, Schlafsäcke rollen. Helmut, mit heiterem Ernst bei der Sache, war glücklich, doch noch einmal aus der Hütte zu kommen. Es waren nur drei Tage, aber wir waren unterwegs, und so beschwerlich der Weg für unsere alten Knochen war, der Göhrder Mörder Marsch[10], wie Helmut die Wanderung nannte, war unser gemeinsames FALK-Projekt, wo wir – na ja, eher wie zwei alte Krähen, die sich mit den Krallen im schweren patschnassen Pullover verfangen hatten – im Kreis liefen.

Und dann, einmal, kamen wir auf einen hohen Berg. Darauf war ein Turm, und von dort aus, höher als die Falken fliegen, schauten wir über das weite Land. Selbst ich schwieg für einen Moment und Helmut lächelte dankbar.


[1] Robert Jungk. Scherz & Goverts, Stuttgart 1956.

[2] Der Mensch entstand durch Kannibalismus – Intelligenz ist essbar. Econ Verlag, Düsseldorf 1971.

[3] Jetzt als CD auf SIREENA, LC 11127 – Bezug durch www.gruenekraft.com

[4] Rotbuch-Verlag Nr. 289, Berlin 1984.

[5] Schildkröteninsel. Frank Schickler Verlag. Berlin, 1980. Deutsch von Ronald Steckel. Neuauflage in vom Übersetzer durchgesehener Fassung: Stadtlichter Presse, Berlin 2006.

[6] Europäisches Medizinrad-Treffen 16. September bis 1 Oktober 1983. Siehe Gugenberger/Schweidlenka, Mutter Erde, Magie und Politik. Zwischen Faschismus und neuer Gesellschaft. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1987

[7] Verleger und Herausgeber der U-Comix und der Zeitschriften Päng, später Liebe.

[8] Richard Baker Roshi: Amerikanischer ZEN-Meister und Dharma-Nachfolger von Shunryu Suzuki

[9] Also wurde ich humoristischer Autor (wovon man in diesem Text wenig merkt). Ich schrieb eine Satire über den Golfsport, von dem ich mehr verstehe, als von Literatur. Der Weg der weißen Kugel erscheint seit Jahren immer wieder verändert und erweitert, weil ich keine Zeit habe, etwas Neues zu schreiben. Die aktuelle Ausgabe, 2005 im KOSMOS-Verlag erschienen, wurde für Jahre Deutschlands meistverkauftes Golfbuch. Helmut hätte sich für mich gefreut und MO hätte eine Flasche aufgemacht und mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme gekichert.

[10] Helmuts Bericht von unserer Göhrde-Wanderung las Theo Köppen im Sommer 2003 bei Peter Engstlers Verlagstreffen an der Kalten Buche in der hohen Rhön vor. – Im Sommer 2005 fuhr ich auch hin. Die Gegend um Ostheim ist mir gut bekannt. Ich traf alte Freunde, lernte neue kennen und war fasziniert, wie viele junge Leute die Lesungen mit großem Interesse verfolgten. Es wurde ein langer Abend. Nach den Lesungen klampfte ich mit Reinhard Heß wie in alten Tagen und schlief dann im Auto, während der Regen leise und beständig auf das Dach tropfte. Nach einen gemütlichen Frühstück verschwand ich wieder in einer anderen Welt.

Der Golf Gott

Eine Glosse von 2006

In den indogermanischen Mythologien gibt es Weisheiten zwischen Himmel und Erde, die nicht zu den Menschen und nicht zu den Göttern gehören.

Wo sind die alle geblieben? Irgendwo müssen sie doch stecken! Ich will es Ihnen verraten: Jeder Halbgott, der auf sich hält, wir zum – nein! Nicht zum Arzt, die Zeiten sind vorbei – er wird zum Golfprofessional, richtig!

Der Golfprofessional ist der Halbgott unserer Zeit und ihm allein ist zu huldigen. Zumindest denken die Damen unserer kleinen Golfgemeinde so, die nach einem Überraschungs- Birdie aus hoffnungsloser Lage ihr erstes Erweckungserlebnis hatten. Sie sehen den Golfunterricht jetzt als esoterische Schulung ihrer transzendentalen Wahrnehmnungsfähigkeit an und den Pro als Boten göttlicher Weisheit.

Golf ist eine ganzeitliche Erfahrung. Viele Damen spüren eine geradezu lustvolle Verzückung, wenn der Pro die Hanf sanft auf das Haar drückt und „Kopf unten lassen“ fordert.

Während sie den optimalen Endpunkt ihres Rückschwungs erfährt, studiert der Pro den holistischen G-Punkt seiner Schülerin. G heißt Ganzheitlich und bedeuet das optimale Zusammenwirken von Yin und Yang – Golflehrer und Schülerin.

Aber wie geht es unsererm jungen Pro dabei? Haben Sie sich das schonmal gefragt? Geringfügige Hierarchien im Halbgötterhimmel dürften Ihnen doch aufgefallen sein! Ein Golflehrer-Azubi im 2. Lehrjahr hat zwar unsere Achtung verdient, aber es ist noch ein weiter Weg zum Tour-Titanen, der weltweit Wellen schlägt.

Woran mag das liegen, dass alle deutschen Anwärter zur Finale Stage der Qualifying School der European Tour 2006 scheiterten*? Es ist immer ein mentales Problem. Nervenstärke! Und: es fehlt dem Pro an kommunikativer Unterstützung. Also helfen Sie ihm! Geben Sie ihm etwas zurück und begleiten Sie ihn auf seinen Turnieren. Wenn sich mehrere Damen zu einer Gruppe zusammenschließen, sind die Spesen nicht so hoch.

Trainieren Sie die Nervenstärke Ihres Pro, damit er fit wird für das Auge des Odin. Bleiben Sie bei ihm und seien Sie ihm ein Halt im Sturm.

Ein brachiales, amerikanisches „you are the Man! Im Rückschwung ist nicht unser Stiel. Aber ein fröhliches „Huhu“, wenn er zu seinem 5. Schlag im tiefen Rough ansetzt, wird ihm das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Wenn er auf dem 18. Grün einen Bergab-Put liest, der für den Cut entscheident ist, dann sollten Sie daran denken, dass die Cheerleader der verschiedensten Ballsportarten in dein USA eine ausgesprochene motivierende und mental stärkende Wirkung auf „ihr Team“ haben. Jetzt ein Can Can hinter dem Grün, oder für die Damen über 50 ein fröhliches “ So ein Tag, so schön wie heute“ und der Ball ist so gut wie drin.

Sie können auch andere Zuschauer zu einer La Ola-Welle animieren. Dem humorlosen Langweiler mit dem Schild „quiet please“ geben Sie einfach eins auf die Nase.

Und Ihr Kerle? Was könnt Ihr machen? Öffnet euer Herz. Soll es dem Jungen so gehen wie euch?

Ein Leben lang den G-Punkt suchen und dabei ganzheitlich vertrocknen? Nein. Männer von Amt, Würden und Rückgrat nehmen ein paar Mark in die Hand und melden sich zum ProAm. Das ist- für die Älteren – ein ähnliches Gefühl wie damals, als es hieß „Freiwillige vor“, aber es ist die einzige Chance für uns Sterbliche, je einen (lebendigen ) Fuß in den Himmel zu setzten. Ein ProAm scheidet die Helden von den Knaben. Ihr Pro wird sich freuen, Sie an seiner Seite zu wissen.

Und wenn es bei ihm gar nicht läuft, dann helfen Sie ihm, genau so, wie er es bei Ihnen gemacht hat. Erinnern Sie ihn an die ewigen Gesetzte für erfolgreiches Golf. Wenn er den Ball nicht sauber trifft, dann nehmen Sie ihn auf die Seite und sagen Ihm, dass er durchschwingen muss. Und spätestens wenn der Put nicht fällt, sollten Sie ihm empfehlen, den Kopf unten zu lassen. Ihr Pro wird Ihnen dankbar sein.

*Der Deutsche Freddy Schott gewann 2023 die Final Stage Infinitum Golf (Lakes & Hills Courses), Tarragona, Spain. Ob dank meiner Tipps in dieser Glosse, wissen die Götter.

(c) by EugenPletsch

Goldstaub auf der Currywurst

Im Kontext der Diskussion um die Modernisierung des Golfsports sagte Martin Kaymer, dass er sich in den Golfclubs mehr Burger und Currywurst wünschen würde. „Der Weg nach vorne wäre jedenfalls: Neun-Loch-Golfplätze mit einer entspannten Atmosphäre, wo du Currywurst-Pommes und Burger am letzten Loch mit etwas Musik serviert bekommst„, zitiert ihn die „Rheinische Post“. Der Artikel ist in der Süddeutschen zu finden. 

Sogleich beteuerten die Protagonisten eines „zeitgemäßen Golf-Marketings“, dass auch sie die Currywurst längst als eine entscheidende Bereicherung zur Entwicklung des modernen Golfsports ansehen. Aber ist die Currywurst wirklich die Rettung jener Clubs, denen das Geld ausgeht?
Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, was Kaymer angesichts der weltweiten Diskussion über Klimaschutz und Brandrodung geritten hat, Burger und Bratwurst auf die Agenda zu setzen. Vielleicht hat der rheinische Jung‘ die Buffets der VIP-Zelte satt und sehnt sich nach dem bodenständigen Futter seiner Heimat, aber dass er Jugendliche, die immer häufiger unter Zuckerkrankheit und Übergewicht leiden, mit Junk-Food auf die Golfplätze locken will, halte ich für etwas unüberlegt.

Ich ahne, wie er es meint. So ähnlich wie damals, als er von Jeans auf dem Golfplatz schwärmte: Golf sollte etwas lockerer werden, nicht so steif und förmlich – aber ist es das nicht längst? Bis auf jene Clubs, die es noch nicht nötig haben, ihr elitäres Getue aufzugeben, sind sie doch alle bereits derart locker geworden, dass Golf-Etikette bereits als Schrulle einer aussterbenden Gattung seniler Golf-Fundamentalisten gilt.

Aber: Was ist denn neu an Kaymers Currywurst-Vorschlag? Diese Frage stellte ich in dem Golfmentoren-Thread:
Auf dem öffentlichen Golfplatz ‚An der Lausward‘ in Düsseldorf war dieses Konzept bereits vor 30 Jahren erfolgreich. Da gab es im Büdchen leckere Schnittchen, aber bestimmt kein Junk-Food und schon gar keinen Akustik-Smog! Golf ist Rasen-Schach. Wie bei einem Schachturnier braucht Golf Ruhe und Konzentration. Wer Gaudi will, sollte einen Rummelplatz besuchen.“

Cartoon: Peter Ruge


Umgehend wurde ich vom Rheinischen Golf-Impresario Michael Jacoby zusammengefaltet:
„Schnittchen SIND Junk-Food. Das Büdchen gibt es nicht mehr und wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit, lieber Eugen. ich überlege gerade ob wir nicht mal ein „Heavy metal Fu..ing 9-hole“-Turnier machen und den Platz mal so richtig beschallen…..Preise: Tickets für Wacken. Es gibt für alles eine Klientel, Eugen und natürlich auch für Rasenschach.“

„Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit, lieber Eugen.“  
Das hatte gesessen und verdeutlicht, wie überholt meine Ansichten zum Golfsport sind.

Mir wurde klar: Es macht keinen Sinn, Trends der Zeit, die meist seichte PR-Gags sind, zu diskutieren und Jacobys Statement hat mir noch mal verdeutlicht, warum mir zum Golfsport nicht mehr einfällt. Wenn ich Golfturniere im Fernsehen und den Profi-Golfsport mit seinen perversen Preisgeldern und fragwürdigen Sponsoren betrachte, wird mir bewusst: Meine Zeit ist vorbei, der Spirit of the Game ist längst ein Gespinst, das spätestens dann zu Staub zerfallen wird, wenn die Wacken-Golfer das Spiel übernehmen und die Jacobyner „den Platz mal so richtig beschallen“.
Wie auch immer: Kaum hatten sie ihre Currywutz durchs Dorf getrieben, folgte ein neuer Post von Carsten Moritz, der auf einen Artikel der Golfpost hinwies. Darin geht es um „Verknappung als Erfolgskomponente“, also genau das Gegenteil von Kaymers Vorschlag. Mehr Exklusivität in den Clubs, um Formel1-Golfer anzulocken, indem man sie sozusagen mit Goldstaub auf der Currywurst pudert.

Günter Rottensteiner, Director of Golf bei Golfresort Haugschlag schreibt: „Grundsätzlich: Wichtiger als alles andere, ist es, den Golfern begreiflich zu machen, dass jede Golfrunde einen Wert hat. Das Verramschen der Golfrunden ist schädlich für alle. Wenn ich in die Oper gehe und dafür 500 Euro hinlege, dann ist es mir als Kunde bewusst, dass ich das nicht für den Sessel bezahle auf dem ich 3 Stunden sitzen darf, sondern für das Gesamterlebnis. Ist die Aufführung gut, dann sind mir dies die 500 Euro wert. War die Aufführung mies, dann wären mir 100 Euro zu viel gewesen. War die Aufführung/das Erlebnis Weltklasse, dann hätte ich gerne noch 200 euro draufgelegt und teile dieses Erlebnis meinen Freunden mit.“

Ich finde, der Vergleich hinkt, denn wenn ich auf einem bekannten, vielfach beworbenen Platz EUR 150.- Greenfee zahle, dann habe ich zumindest hierzulande keine Garantie, dass das angestrebte Gesamterlebnis einer flüssigen Golfrunde von drei Stunden stimmt, weil kein Club garantieren kann, dass nicht drei Dussel im Flight vor mir ihr Gesamterlebnis lieber sechs Stunden lang zelebrieren möchten – mal abgesehen von allen anderen Faktoren, die das Wetter und die Natur ins Spiel bringen.

Dass die Exklusivität einer Golfanlage weder mit einer Marmor-Lobby im Clubhaus noch mit sozialverwahrlosten Zicken auf der Club-Terrasse zu tun hat –  sondern vielmehr mit engagierten Greenkeepern und einer Anlage, die sportliche wie ökologische Intelligenz beweist – hat sich in manchen Opernhäusern offensichtlich noch nicht rumgesprochen.

(Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass ein Clubmanager 500.- Euro für einen Opernbesuch ausgibt, wo doch die Mehrzahl der Golfclubs nicht mal in der Lage ist, 500.- Euro zusammenzulegen, um mich zu einer Lesung einzuladen…)

Zu besagtem Golfpost-Artikel gab es einen Leserbrief von Daniel Schneider. Auszug: „Der Vergleich zur Formel 1 ist vollkommen unpassend. Die Formel 1 lebt von den Fanmassen, den man Brot und Spiele vor Ort bzw. vor dem Fernseher bietet. (…) Im Golfsport wahrscheinlich nur vergleichbar mit Loch 16 der Phoenix Open. Dies ist das Gegenteil von Glamour.“

Richtig, Daniel, danke!

Teure Greenfees und versnobtes Getue machen Golf noch lange nicht exklusiv und die Formel 1, deren Vermarktung man sich hier als Beispiel heranzieht, ist nicht nur NICHT exklusiv, sondern in der heutigen Zeit geradezu obszön.

Aber versteht das jemand, der sich beim AUDI-Kauf betrügen lässt und jetzt eine Dreckschleuder fährt, die eigentlich gar keine Zulassung habe dürfte? Vermutlich nicht.

Nun denn: Probiert es mit Wacken-Golf und Heavy Metal-Krach am Clubhaus, um neue ‚Consumer‘ für exklusiven Golfsport zu interessieren. Vielleicht klappt es. Übrigens: Eine Shisha-Bar im Halfway-House (oder auf der Rheingolf) dürfte auch eine zahlungskräftige Klientel im schwarzen Mercedes oder BMW mit getönten Scheiben anlocken.

Doch, wirklich, macht mal – und habt Spaß – aber nennt es bitte nicht GOLF!

(c) 2019 by Eugen Pletsch