Wie es bei mir begann..

Mein Weg in die Golfsucht…

Es war an einem Sonntag in Luxemburg vor mehr als 30 Jahren. Kurz nach 12 Uhr muss es gewesen sein, denn wir tranken bereits einen Malt. Jim, mein schottischer beinah-Schwiegervater, stellte sein Glas auf den Gartentisch, nahm einen Golfschläger, setzte einen Ball auf einen kleinen Stift und schlug einen Golfball in Richtung der Wiese hinter dem Haus.
Da war niemand außer ein paar Kühen. Die Kühe schauten nicht mal auf, als Jim den Ball schlug. Offensichtlich wussten sie bereits, dass Jim sie nie treffen würde. Der Ball flog nur ein paar Meter, dann verschwand er im dichten Gras. Jim ärgerte sich und schlug noch einen Ball. Der flog dann etwas weiter und Jim lächelte listig.
Irgendetwas faszinierte mich an dem, was er da machte. Deshalb wollte ich es auch mal probieren. Er gab mir seinen Schläger, zeigte mir wie man ihn hielt und so versuchte ich nach dem Ball zu schlagen. Ich traf ihn nicht. Vermutlich um mir Mut zu machen, sagte Jim, er wäre Linkshänder. Die Schläger wären also für mich falsch rum. Das war mir egal. Es war wirklich egal, denn als ich später Schläger für Rechtshänder bekam, traf ich zunächst auch keinen Ball.

Das ist nun mal so. Zumindest bei den besonders talentierten Spielern. Ein weniger talentierter Spieler trifft den Ball meist gleich zu Anfang. Dann denkt er – oder sie – das Spiel wäre ganz einfach, verliert den Respekt und entwickelt sich kaum mehr weiter. Alle guten Spieler haben großen Respekt vor dem Golfspiel, aber auch sie kommen nie wirklich weiter. So geht das bis in die Weltklasse. Irgendwo hapert es immer. Da triffst du endlich deine Eisen, prompt fliegen die Drives ins Aus. Und kriegst du die Drives auf die Bahn, dann verlässt dich dein Putter. Man sagt, das Golfspiel sei unbesiegbar. Niemand hat das Spiel jemals gemeistert. Höchstens Bernhard Langer! Der spielt nach wie vor wie von einem anderen Stern, was mich vermuten lässt, dass er tatsächlich von einem anderen Stern ist. Aber darauf komme ich an anderer Stelle noch zurück.

Dass ich mittlerweile seit mehr als 30 Jahren Golf spiele, wundert mich selbst am meisten, denn eigentlich bin ich ein keltischer Barde. Ich erzähle gerne Geschichten, zumindest so lange, bis man mich an den Baum bindet. Bevor ich Jim traf, war ich Straßensänger. Dass ich weder singen noch besonders gut Gitarre spielen konnte, war kein Problem. Ich hatte trotzdem Geld im Gitarrenkoffer, weil ich den Leuten Geschichten erzählte. Ich begann irgendeinen Song, zum Beispiel einen Talking Blues von Bob Dylan, aber dann quasselte ich über dies und das, über Gott und die Welt. Die Leute schauten, blieben stehen und warfen Geld in meinen Koffer.

Jahre später, als ich das Golfspiel kennenlernte und danach süchtig wurde, reiste ich als Handelsvertreter durch Deutschland. Jeden Abend war ich an einem anderen Golfplatz und lernte so die deutsche Golf-Szene kennen. Zu dieser Zeit waren Golfer meist sportlich ambitionierte Menschen aus gesellschaftlichen Schichten, die als „Establishment“ bezeichnet wurden. Fremde Gäste im Club wurden noch mit Handschlag und einem „Gestatten, Dr. Soundso…“ begrüßt – um in meinem Fall sofort zu erkennen, dass ich weder den Stallgeruch noch das Einkommen hatte, um mir mehr als ein paar Stunden Übungszeit auf der Driving Range zu erkaufen – und selbst für diese Gunst musste ich mit der Clubsekretärin noch heftige Sträuße ausfechten. Die einstigen Gentlemen des deutschen Golfsports, die mich zu mancher Satire anregten, haben mein (mittlerweile etwas abgestandenes) Bild vom deutschen Golfer geprägt – wobei ich den weitgehend niveauvollen Umgang dieser Zeit bisweilen etwas vermisse.

Aber ich trauere dem nicht nach, denn ich war damals ein vogelfreier Barfußgolfer, ein Außenseiter, der um Spielmöglichkeiten betteln musste. Die Erkenntnis, dass ich selbst der Prototyp des neuen Golfers war, wurde mir erst Jahre später bewusst.
GOLF! Ich wollte nur spielen! Intellektuell unbelastet wie eine Tontaube und vollkommen golfverrückt taumelte ich – tatsächlich häufig barfuß – über die Fairways, so man mich ließ.

Schließlich begann ich, über meine Zeit als clubfreier Golfer zu schreiben.
Mein erstes Buch „Der Weg der weißen Kugel“, eine Mischung aus Fakten und Fiktionen, wurde signifikant für meine Art des Schreibens.
‚Surreale Golf-Satire‘ oder wie man das bezeichnen möchte, war eine neue und bis dahin unbekannte Stil-Form im Golf-Genre. Zum Glück wurde „Der Weg der weißen Kugel“ sehr erfolgreich und entwickelte sich im Lauf der Jahre (ähnlich wie Bernhard Langer) zum Klassiker.

Ende der 1990er Jahre ging es dann auch bei mir mit dem Internet los. Auf meiner Website Cybergolf.de veröffentlichte ich regelmäßig eine Kolumne, die zuerst ‚Golf Gaga‘, dann ‚Golfnotizen‘, und später nur noch als ‚Notizen von Eugen Pletsch‘ in der Golf-Szene bekannt wurde.
Es folgten Kolumnen in Golf-Zeitschriften. Ich machte das, was man heutzutage bloggen nennt und war vermutlich Deutschlands erster Golf-Blogger. (…)

Soweit ich aus Zuschriften weiß, sind meine Leser meist Menschen, die von diesem Spiel wirklich fasziniert sind, aber einen anderen als nur technischen Zugang zum Golf suchen. Für diejenigen schreibe ich am liebsten, denn wer sich wirklich mit Golf beschäftigt, entwickelt allein schon als Überlebensstrategie jene Art von Humor, die man braucht, um an meinen Texten Gefallen zu finden.

PS: Der Begriff Barfußgolfer bezieht sich auf den Satz „Wir brauchen viel mehr Barfußgolfer!“ mit dem Jan Brügelmann, 1982 bis 1994 Präsident des Deutschen Golfverbandes (DGV), den Golf-Kommentator Carlo Knauss zitierte. Barfußgolfer im Sinne von volksnah, öffentlich zugänglich, nicht länger elitär. Mittlerweile gibt es viele, auch preiswerte Optionen, dieses sonderbare Spiel zu erlernen.

(c) by Eugen Pletsch

Dieser Text erschien in meinem Buch „Notizen eines Barfußgolfers„, das neben einer Auswahl Golf-philosophischer Betrachtungen und praktischen Tipps auch stille Hinweise auf das mystische Geheimnis dieses eigenartigen Spiels enthält.

OIGEN: Zwischen Sternenstaub und Hühnerdreck

…I‘m thankful that old road‘s a friend of mine….Towns van Zandt

Der nachfolgende autobiografische Text mit Liedern und Zeichnungen basiert auf meinem Buch OIGEN: Zwischen Sternenstaub und Hühnerdreck, das 1986 erschien und längst vergriffen ist[1]. Die Texte wurden im Frühjahr 2021 überarbeitet und ergänzt. Beiträge anderer Autoren sind entsprechend gekennzeichnet.

I did it may way

Das bürgerliche Umfeld mit liberalen Eltern, in dem ich aufwuchs, bot meinen Schwestern gute Möglichkeiten sich musikalisch zu bilden. Meine ältere Schwester lernte Blockflöte, F-Flöte, Klavier und Schifferklavier. Meine jüngere Schwester lernte Blockflöte, F-Flöte und Klavier. Ich lernte nichts. Ich hatte nur eine Blockflötenstunde, dann reichte es mir. Im Musikunterricht kapierte ich überhaupt nichts – und nicht nur weil ich grottenfaul war. Es interessierte mich einfach nicht. Harmonien-Lehre ist mir bis heute ein Buch mit sieben Siegeln. OK, ich kann einen Notenschlüssel malen und die C-Dur Tonleiter erkennen, aber das war es auch schon. Heute bedaure ich das, aber es ist, wie es ist.

Mein Vater hatte eine Sammlung von etwa 3000 Schallplatten. Vorwiegend klassische Musik, aber nicht nur. Er hatte auch das, was er für Jazz hielt, zum Beispiel Mr. Acker Bilk. Die Aufnahme von Dave Brubeck at Carnegie Hall gefiel mir besser.
Als Folk-Musik populär wurde, kaufte er auch ein paar Platten in Richtung Gospel. Odetta, das Golden Gate Quartett, die damals in Deutschland recht populär waren und Pete Seeger at Carnegie Hall wurden bei uns oft gespielt.
Ich entsinne mich, dass mich mein Vater zu zwei Konzerten mitnahm, die mich beide sehr beeindruckten: Das Golden Gate Quartett sahen wir – ich glaube – in Wiesbaden, und Lippmann und Rau brachte eine wilde Truppe Cajuns nach Gießen. Soweit ich das rekonstruieren kann, war es die „American Folk & Country Music“-Tournee von 1966. Dann hörte ich Bob Dylans erste Schallplatte und mein Leben veränderte sich. Als mich Freunde zum Ostermarsch nach Frankfurt mitnahmen, wo Joan Baez sang, hatte ich bereits eine Wandergitarre auf dem Rücken. Nur spielen konnte ich nicht, woran sich in den nächsten 50 Jahren wenig ändern sollte.

Mitte der sechziger Jahre reiste unsere 7. Klasse zwecks Schüleraustausch an die Fulwood Secondary Modern School nach Preston in England. Die Welt war damals zweigeteilt. Bereits in den ersten brieflichen Kontakten zwischen den Schulen wurde gefragt, wer Anhänger der Beatles oder der Rolling Stones sei, denn um Gesinnungskriege zu vermeiden sollten wir jeweils in Familien von Beatles- oder Stones-Fans untergebracht werden. Ich schrieb, ich sei Bob Dylan-Fan. Donovan wäre auch OK. Das sorgte für Verwirrung. Fieberhaft wurde an der Schule nach einem Folk-Freak gesucht. (Dabei tauchte generell die Frage auf, ob ich willkommen sei, da ich auf meinem Foto den „Ban the Bomb“-Button der Ostermarschierer trug). Schließlich fanden sie Mick. Bob Dylan war nicht sein Ding, aber Simon und Garfunkel mochte er ganz gerne. So fand auch ich eine Gastfamilie.

Nach einigen Wochen in Preston ging unsere Reise nach London. In einem kleinen Hotel erholten wir uns von der gnadenlosen Hetzerei unseres Klassenlehrers durch die Londoner Kulturgeschichte. Er versuchte uns dabei vor allen Gefahren der modernen Welt zu schützen, aber im Hydepark hatten wir 30 Minuten zur freien Verfügung und da erwischte mich der Virus.

Bereits am Morgen in der Kings Road, der Portobello Road und auf dem Flohmarkt hatten wir einen Kulturschock. Ultrakurze Mini-Röcke, bunte Menschen, es roch nach mehr und nun der Hydepark: Menschen aller Nationen und Altersstufen lagen im sommerlichen Gras, Prediger warnten vor dem jüngsten Tag und chinesische Kulturrevolutionäre verteilten MAO-Buttons:
Ich fragte ein buntbemaltes Mädchen, was hier los sei. Sie flüsterte etwas von Love, Leary, San Francisco und den Beatles und schien ziemlich abgedreht.

Eugen ca. 1970

Zu Hause verzichtete ich zum ersten Mal auf den turnusmäßigen Haarschnitt. Am 25. Juni 1967 spielten die Beatles ALLYOU NEED IS LOVE in einem Livekonzert, das in 31 Länder übertragen von mehr als 400 Millionen Zuschauern gesehen wurde. Das war der Tag, dem wir zu Hippies wurden.
Ich begann zu trampen, egal wohin, ich wollte nur UNTERWEGS sein.
Mit 15 trampte ich zum ersten Mal durch Deutschland. Ich hatte eine schriftliche Erlaubnis meines Vaters dabei und schaffte es von Sylt bis zum Bodensee und dann nach München. In Schwabing hockte ich bei den Gammlern und dann traf ich einen echten amerikanischen Beatnik! Er schenkte mir ein langes Gedicht, kannte angeblich Allen Ginsberg und erklärte mir, dass ich, wie alle echten Beatniks, keine Tasche bräuchte. Ich solle meinen Schlafsack zusammenrollen, meinen Kleinkram drin verstauen, eine Schnur drum und auf die Schulter damit. Leichtes Gepäck. Das war, bevor mich Kerouac mit „Gammler, Zen und hohe Berge“ auf Rucksäcke anturnte.

Wann immer es ging stand ich alleine oder mit Freunden an der Straße und hielt den Daumen raus. Beim Warten fing ich an zu singen oder blies meine Harp. Eigene ausgedachte Blues-Stücke, die ich an den Autobahn-Auffahrten grölte. Das einzige Lied, das ich aufschrieb und später auf der Straße spielte war Lonesome Hobo. Heiter beschwingt, mit Gitarre und Mundharmonika, sang ich meine Realschul-englischen Strophen und träumte davon ein happy lover zu sein.

Lonesome Hobo

Ref: I am a lonesome hobo, travelling through the land
I am a lonesome hobo, travelling through the land.
Hey Mister pick me up, l’m here for hours three
Hey Mister pick me up, it’s so cold to me
I swear I kill nobody, I never had no knife
I ‚ll sleep in a corner, not touching your wife


Ref: I am a lonesome hobo, travelling through the land
I am a lonesome hobo, travelling through the land.
Just pick me up, take me for hundred miles
my feet will become warm, and my face smiles
Ref: I am a lonesome hobo…


I see the spring passing bye and the summer come
and when the leaves are falling, I‘ m searching for a home
Then I‘ m your happy lover, loving you all night
then I’m your happy lover, loving you al1 night.
Speak: But when the spring is coming, I’m going back to the autobahn
taking out my thumb singing:

I am a lonesome hobo, travelling through the land,
I am a lonesome hobo, travelling through the land…

Peter Markl

In Gießen war es leicht, Gleichgesinnte zu treffen, sei es an der Südanlage oder im ‚Bergwerkswald‘, wo häufig Sessions stattfanden. Oder in der Teestube.
Es war ca. 1970, als ich Peter Markl kennenlernte.
An einem Samstagnachmittag ging ich wie üblich zur Shit-Wiese, einem kleinen Parkstreifen an Gießens Südanlage, wo wir dann im Gras dösten oder auf Instrumenten klimperten. Die braven Bürger von Gießen waren längst zu Hause, um Einkäufe in ihre zu Höhlen karren, während wir bereit waren neue Welten zu entdecken. Es waren etwa 30 Leute, die Kräutelein rauchten und Löschpapierchen mit lustigen Aufdrucken kauten, um dann das Zentrum der Galaxis anzusteuern. Etwa dahin, wo Gott und Jimi Hendrix wohnen.

Ich hatte meine Gitarre dabei. Peter, ein Bursche aus Lollar, hatte lange blonde Haare, ein blaues Auge und ebenfalls eine Gitarre. Bald saßen wir zusammen und klampften das Hare Krishna Mantra, Om Namah Shivaja und andere göttliche Gesänge, während andere Bedröhnte auf marokkanischen Handtrommeln den Rhythmus schlugen. Er lernte gerade Baree-Griffe und ich war stolz, ihm etwas zeigen zu können.
Nach diesem Samstag trafen wir uns häufiger in meiner Mansarde am Nahrungsberg und klampften vor uns hin. Schließlich begannen wir ein eigenes Lied zu basteln. Unser Song Checkpoint Charly mag ein bisschen an lt‘s a beautiful Day erinnern, aber was solls? Jedenfalls waren wir mit Checkpoint Charlie, zweistimmig gesungen, unschlagbar. Worauf sich Checkpoint Charly bezog, weiß ich nicht mehr genau. Vermutlich auf die Parkbank in der Südanlage, auf der an jedem Payday die GIs aus der nahegelegenen Garnison saßen … waiting for the man.

Foto: Eugen Pletsch, GIs ca 1970

Checkpoint Charly                     Text: Oigen Tunes: Peter Markl

Ev’ry friday I fly to Checkpoint Charly
ev ‚ry friday in the afternoon
At Checkpoint Charly we have a wonderful day
and with Mary Maiden we have a bowl.

Summertime at Checkpoint Charly
makes life easy for you.


Summertime at Checkpoint Charly
what is not that is and that is true.

Take all your puppets and billboards and strings
and leave the ashtray, go to the sphinx
don’t mind what you think that he thinks
so take all your puppets and billboards and strings.


Hey Mister Moonshine my babylon
what can you do that I can’t do?
Hey Mister Moonshine my babylon
what you say is true – but not for me
he he he…

Elster Silberflug

1970 war ich ein Gründungmitglied im Kollektiv der ‘Gießener Teestube‘, einer Drogenberatungsstelle (!), die in ihrer ersten Zeit durch die künstlerische Gestaltung von Bernward Spiegelburg das schönste Teestuben-Setting östlich von Amsterdam bot. Jenseits der offiziellen Öffnungszeiten war das ein wunderbarer Ort, um die eigenen ‚Pforten der Wahrnehmung‘ zu öffnen. Häufige Gäste, besonders in der kalten Zeit, waren die Gründerväter der Gruppe Elster Silberflug: Ulli Freise, Diethard Heß und Hartmut Hoffmann. Mit Bernward Spiegelburg, Thomas Ziebarth und Peter Markl waren das die Ur-Elstern. Sie hausten zeitweise in einem winzigen Raum im Hofgut Friedelhausen bei Lollar und ernähren sich von braunem Reis und Maiskolben, um jene wundersam mystische und damals zugleich hochmoderne Musik zu kreieren, die diese Gruppe später bundesweit bekannt werden ließ.[2]

Ulli Freise hatte sich im Duo mit Fredrik Vahle während der Studenten-bewegung einen Namen gemacht und die Schallplatte „Wir, Bürgermeister und Senat“ veröffentlicht. New York hatte Simon & Garfunkel, Frankfurt hatte ‚Christopher und Michael‘ und Gießen hatte Ulli und Fredrik!
Während Fredrik sich später sehr erfolgreich dem (politischen) Kinderlied zuwandte, befasste sich Ulli Freise mit altdeutschem Liedgut, mystischen und Vaganten-Liedern, aber auch mit Moritaten von Heinrich Heine, François Villon und seinem eigenen Material als Singer / Songwriter.

Frühe Elster Silberflug beim Tingeln in Gießen

In der Teestube gab es einen Musikraum, in dem besonders im Winter viele Sessions stattfanden und junge Musiker ihre Talente entwickelten. Allen voran der bereits 1991 verstorbene Peter Markl aus Lollar, dem fast vergessenen Genie, wie ihn unsere Heimatzeitung 2018 in einem Artikel nannte und von dem 2005 posthum eine CD veröffentlicht wurde.

Das Unheil

1971 wurde ich für den Film DAS UNHEIL von Peter Fleischmann für eine Rolle als Schüler in dem Film gecastet und unterschrieb einen Kleindarsteller-Vertrag bei United Artists. Martin Walser, Volker Schlöndorf und andere Prominente kamen in die Provinz, wo Fleischmann allabendlich in einer griechischen Kaschemme Hof hielt. Mit der jugendlichen Hauptdarstellerin Frederique Jeantet aus Paris in der Rolle der ‚Roswitha‘ hatte ich eine zarte Romanze.
Nach den Dreharbeiten, die sich ewig hinzogen, wurde ich noch mehrfach zur Synchronisation nach Wiesbaden und München angefragt, um die Dialoge des Hauptdarstellers Vitus Zeplichal aus Österreich in meinem hessischen Dialekt zu sprechen. Als ich den Film 1972 (?) in Paris in einem Undergroundkino sah, war ich entsetzt. Das UNHEIL wurde ein Flop, was nicht an mir lag, sondern an dem konzeptionslosen Irrsinn, den der Choleriker Fleischmann (mit dem Drehbuch von Martin Walser) veranstaltet hatte.
Dass der Film vor kurzem wieder als vergessenes Meisterwerk in die Medien auftauchte, zeigt, dass Schwachsinn keine Grenzen kennt.[3] (Mal abgesehen davon, dass mich Google trotz Widerspruch nach wie vor als Schauspieler führt).
Für mich war es natürlich spannend am Drehort in Wetzlar abzuhängen, zumal die Band XHOL mitspielte. Die wohnten während der Dreharbeiten als Kommune in einem alten Turm, indem auch ich manchmal übernachten durfte. Mit dem Saxophonisten Tim Belbe freundete ich mich an und jammte Jahre später mit ihm im Keller des RELEASE, Highdelberg. Skip, den Drummer, mit einer Matte bis zum Gürtel, traf ich eines Tages mit geschnittenem Haar und im Businessanzug bei der damaligen ‚Devine Light Mission‘ des Guru Maharaji wieder.

Vom Geld, das ich mir bei Peter Fleischmann als Synchronsprecher verdient hatte, kaufte ich mir eine Elektrogitarre, eine Hoyer ‚Les Paul‘, wie sie mein Freund Bernd Wippich zu seiner Zeit bei den ‚Petards‘ spielte. Ich merkte aber schnell, dass mir jegliches Talent zum Solospiel auf der E-Gitarre fehlt und so klimpere ich bis heute lieber auf Akustikgitarren.

Das Unheil“ Vitus Zeplichal links, Bernhard Kimmel Mitte, E. Pletsch rechts. Quelle: © FILMFEST MÜNCHEN 2017

Reimar Lenz

„Lenz verweigerte sich dem Konsumdenken und lebte nach dem Motto: „Kultur ist, was man selber macht“; er sah sich selber nicht als Aussteiger, sondern als Einsteiger für eine neue Lebensart und Denkweise.“ Wiki

Dem Schriftsteller Reimar Lenz († 2014) begegnete ich erstmals 1972 in Kassel, bei einem ‚Fest der weißen Gewänder. Es wurde eine denkwürdige Session, die Frau Dr. Ingrid Riedel dazu inspirierte weitere Begegnungen zu organisieren.

Daraus entstand die große, jährliche Erweckungsparty der Alternativszene, das legendäre Pfingsttreffen, veranstaltet von der evangelischen Akademie in Hofgeismar. Hier fand die Szene der frühen siebziger Jahre unter der weisen Administration von Frau Dr. Ingrid Riedel ihre Stimme. Es gab immer ein offizielles Programm, bei dem die Großkopferten der Szene ihren Aufritt hatten, sei es Dieter Duhm, Hadayatullah Hübsch (damals mit Perserkäppchen und pakistanischen Bodyguards) – während im Foyer die vielen anderen abhingen, die sich den Besuchern mit Büchern (Che Urselmann, ZERO), Projekten und Ideen präsentierten. Dort lernte ich Gerriet Hellwig[4] kennen, der mit der Alternativen Kooperation ein neues Konzept der Vernetzung von Mensch und Kompetenz entwarf, sowie den eingeborenen Worpsweder Künstler Matthias ‚Regenmacher‘ Kaufmann, Julian Pawlik, der vom Topmanager zum Biotherapeuten transformierte oder Carl Ludwig Reichert, den Privatgelehrten und Erfinder des bayrischen Mundartrock. Viele aus dieser Zeit blieben für lange Jahre (oder sogar bis heute) liebe Freunde.

In den Pausen des offiziellen Programms flogen die Frisbees im Park, in dem die Familien-Clans wie Löwenrudel beieinander lagen und neueste Ernährungsdogmen ausfochten. Nachts begannen endlose Trommel- und Trancesessions.
Draußen, bei der Garderobe im Flur, wo die Akustik am besten war, saß ich nachts mit meiner Gitarre, spielte Lieder und Balladen und zum Abschluss des Abends das Linsensuppen-Sutra, ein Zen-Lied, das – meist – zur augenblicklichen Erleuchtung führte.

Das ‚Linsensuppen-Sutra‘ habe ich seitdem nur selten vorgetragen und nur zu besonderen Anlässen wie dem Zusammentreffen mit C. L. Reichert, Gisela Dischner, Rolf Schwendter und Rolf Hanusch, das als Transmittercassette LIED 84[5] unter dem Titel „Eine gnadenlose Nacht in Josefstal“ dokumentiert ist.

Song & Cartoon by Oigen 1973


Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich diese experimentelle Pfingst-Bewegung zu einer Spielwiese der gerade entstehenden Alternativkultur.
Jahre später verfasste Reimar Lenz unter dem Titel Wo Oigen debütiert hat einen längeren Artikel für mein Büchlein „Zwischen Sternenstaub und Hühnerdreck“, in dem er diese faszinierende Zeit beschreibt. Auszüge:
„(…)  Gefühle wie einst im Mai, wenn ich daran denke, wie ich in eine Kasseler Privatwohnung kam und dort jüngere Leute traf, die mich nicht nach meinem ideologischen Standpunkt ausfragten, auch nicht gleich mit mir diskutieren wollten, sondern sich stattdessen, nach einer dezenten Anlaufzeit scheinbarer Gleichgültigkeit danach erkundigten, wie es mir gehe. Das war ich nicht gewohnt. Das war damals, auf dem Höhepunkt der kulturpolitischen Macht der neuen Linken, der ich mich zugehörig fühlte (mit Abstrichen) absolut ungewöhnlich. Und die Kasseler Mini-Szene, die sich mir bot, war es auch(…) Da saßen Mädchen und Knaben, wohl lauter Twens, auf dem Fußboden, malten vor sich hin, spielten Blockflöte, nur so, oder hockten nur still, was sie „Meditation“ nannten. Wie es mir ging? Dort nicht schlecht. Ich war in die deutsche Hippie-Szene geraten, jene zärtlichen kleinen Kreise, die sich von amerikanischen Hippies seit 1967 hatten inspirieren lassen. In dieser Wohnung trafen wir uns dann Pfingsten 1972 zu einem spontanen Fest mit 25 Figuren. Wir lasen eine Buddharede, und das dauerte mehr als eine Stunde. Die großartige Rede vom „Prachtnetz“ war es, in der Shakyamuni (nachmaliger Titel: Buddha) mit dem Kulturbetrieb der Zeit abgerechnet hat. Wir lasen Meister Eckhart, malten wieder, machten Musik und hockten (Meditation), in Schneiders Lotossitz, tanzten und waren unseres Lebens froh.

Hier lernte ich auch lngrid Riedel kennen, die damals schon Gesprächsleiterin an der Evgl. Akademie Hofgeismar war, und ein Fädchen wurde geknüpft von ihr zu uns, das sich während eines furchtbaren Jahrzehnts zum Netz erweitern sollte. Es gab nun Tagungen in Hofgeismar über psychedelische Drogen, zusammen mit Release-Mitarbeitern, über Meditation, spirituelle Traditionen der Weltreligionen, die Grundrechte der Natur, eine Kultur des Eros und was so schöne Themen mehr sind. Gesprächs-, Selbsterfahrungs- und Kreativitätsgruppen bildeten sich, was für damalige Zeiten einen totalen Wandel des „Tagungs‘-Stils bedeutete.

Die „Hofgeismarer Pfingstfeste“ waren geboren und erfreuten sich wachsender Beliebtheit in der grünenden Alternativ-Szene. (…) Eine Blütezeit der deutschen Kultur brach an, wie jeder bestätigen kann, der dabei gewesen. (…)

(…) Der vielfältige Geist wehte, wo er wollte, diesmal ausgerechnet im akademie-eigenen Hofgeismarer Schlösschen, beruhigte den Atem von  Meditierenden, beflügelte Dichter, brauste auf in der dynamischen Meditation eines Bhagwan, der damals noch eher Anreger als Sektenführer war, musizierte, schuf Stegreif- und Laienspiele (wo sind die Skripts geblieben?), und des LiebesGeistes voll waren fortschrittliche Christen, die den Pfingstgottesdienst gestalteten (Rolf Hanusch, Gerhard Marcel Martin und andere).

Auf dem Höhepunkt dieser weltreligiös getönten Welle pilgerten Mitte der Siebziger Jahre 400 Leute aus Land- und Stadtkommunen (ebenso wie hartgesottene Einzelgänger) nach Hofgeismar und übernachteten teils illegal im Park und auf den Fluren. (Hätte man noch Namenslisten, es wäre ein Gotha der edelsten Freaks.)

Das konnte nicht gut gehen. Als einige Enthusiasten auch noch nackt badeten im christlichen Teich, als wollten sie eine Renaissance des Adamitentums ausrufen, gab es Ärger im Stadtparlament, ein Pfingstfest musste ausfallen und die Bewegung ging auf Tauchstation.

(…) Die Freaks verloren die Lust am Pfingstfest, das gezähmt wurde in Hofgeismar, die traditionelle multi-rhythmische Nacht der Trommeln wirkte nun primitiv statt beschwingt, eine Priesterkaste, die entstanden, aus Referenten und Gruppenleiter/Innen) begann, sich zu wiederholen. Der  Geist ward müde wie das Fleisch. Eines freilich blieb sich gleich: alle Jahre wieder erinnerte Oigen an paradiesische Zeiten, wenn er nach Mitternacht zu rhapsodieren begann, seine Songs vortrug (ewig unvergessen: Das Linsensuppen-Sutra), die Suada improvisatorisch weiter führte, mit einem sensiblen Tempo, als wäre der Sänger high und vom Geiste persönlich geküsst beziehungsweise von der Muse (“ Lucy in the sky with diamonds . . .“ )
Jener Oigen war mir übrigens schon aufgefallen auf einem Kasseler Alternativ-Treffen, als er in einer wort-musikalisch improvisierenden Runde in wachsender Ekstase immer nur „Freude“ rief.

Ansonsten hatte sich an ihrem Ende die schöpferische Lauge der frühen Siebziger verfestigt. Talente kristallisierten sich heraus, gerannen zu Markenartikeln. Buntscheckige Freaks bekannten Farbe, wurde monochrom, wurden Grüne oder trugen Orange. Zart hauchende Mädchen mutierten zu vitalen Frauen und traten einem plötzlich wieder entgegen als hauptberufliche Atemtherapeutinnen. Die Professionalisierung forderte ihr Recht. Und mancher der alten Freak-Freunde, damals noch ein verträumter, schüchterner Adept, ist heute Guru geworden, hat eine eigene Therapie entwickelt, lässt Prospekte drucken mit einem -ismus darauf und gibt Wochenendkurse zu 250,- DM. Aus Freistilchristen wurden Pastöre und Theologieprofessoren.

(…) ln „Hofgeismar“ war vieles eben keimhaft vorhanden. Aber mit der Spezialisierung der Lebenswege zerbrach die große Jugend-Koalition. Dass der ganze Sturm und Drang, diese Mini-Jugend-Bewegung sich an den Mauern einer evgl. Akademie früher oder später brechen würde, habe ich als alter Skeptiker immer vorausgesehen. (…)
Die „Brüder und Schwestern vom freien Geiste“ können nicht Wohnung nehmen in einer protestantischen Institution, und sei diese auch noch so offen, wie Hofgeismar damals war. So ist denn die ganze Hofgeismarer Schule von lngrid Riedel, welche mit ihren Tagungen über „Buddhismus, Sufismus, Traum, Bildmeditation noch über den Pfingstkreis hinausreichte, auch verweht. Und die pfingstliche Erbschaft, soweit schriftlich fassbar, ruht in Aktenkoffern der lieben Ingrid (…)
[6]

Ein anderes Lied, das ich in Hofgeismar häufig gesungen habe, wurde in einer Alternativ-Zeitung abgedruckt und auch in der TAZ, wie ich später erfuhr.

Zehn kleine Landfreaks     (Oigen, 1973+)

Zehn kleine Landfreaks kauften eine Scheun‘,

der eine hat im frein geschlafen, da waren es nur noch neun.

Neun kleine Landfreaks teilten alle Macht

einer wollte Guru sein, da waren es nur noch acht.

Acht kleine Landfreaks zogen ihre Rüben

einem tat der Rücken weh, da waren es nur noch sieben.

Sieben kleine Landfreaks verrauchten alle Schecks

und als das Dope dann alle war, da waren es nur noch sechs.

Sechs kleine Landfreaks, wuschen ihre Strümpf,

einer wollt ne Waschmaschin‘, da waren es nur noch fünf.

Fünf kleine Landfreaks kauften einmal Bier

einer brachte die Flaschen zurück, da warens nur noch vier.

Vier kleine Landfreaks machten ne Dealerei

die Bullen haben das geschnallt, da warens nur noch drei.

Drei kleine Landfreaks, kochten einmal Brei

einer wollte Wurst dazu, da waren es nur noch zwei.

Zwei kleine Landfreaks, wollten sich mal lieben

das zog sich über Jahre hin, das waren es wieder sieben!

Krauts Zupforchester

Ulli Freise, Hartmut Hoffmann und Thomas Ziebarth machten sich gemeinsam auf den Weg nach Indien. Sie waren etwa ein Jahr unterwegs und auf dem Rückweg nach Gießen blieben sie in Heidelberg hängen. Sie lernten Barby Grosse und Lutz Berger kennen, die sich der Gruppe anschlossen und der Rest wurde Folkmusik-Geschichte[7].
‚Deutschfolk‘ nannte man das damals. Die Musik der Elstern inspirierte auch andere Musiker, ein Liederbuch wurde veröffentlicht. Dann nahmen die Elstern bei Hansa in Berlin (‚at the wall‘, wo David Bowie sein Album Heroes produziert hatte) ihre erste Schallplatte auf. Es folgten weitere Veröffentlichungen.

Bassist Diethard Heß, der ‚Ulli und Fredrik‘ bereits bei ihren Konzerten auf der Burg Waldeck begleitet hatte, pendelte zwischen Gießen und den Elstern-Gigs hin und her. So kam es, dass wir uns im Sommer bei einer Session im ‚Bergwerkswald‘ musikalisch näher kamen. Nach einer langen psychedelischen Nacht fragte mich Diethard, ob ich Lust hätte, mit ihm und Thomas Ziebarth unter dem Namen Krauts Zupforchester ein paar Gigs zu spielen. Die Elstern würden Konzerte in England wahrnehmen, woran er wegen anderer Termine nicht teilnehmen könnte. Ich wunderte mich zwar, dass er mich in Erwägung zog, aber ich willigte ein.

Kurz darauf zogen wir auf eine einsame Lichtung im Schwarzwald, wo wir etwa eine Woche unter freiem Himmel an einem Lagerfeuer kampierten. Wir spielten Tag und Nacht, inspiriert von den gütigen Gaben eines Sadhus, der uns als psychedelischer Zeremonienmeister begleitete. Ich habe keine Erinnerung mehr daran, ob und wann wir je etwas gegessen hätten. Aber in dieser Woche lernte ich etliche Lieder aus fünf Jahrhunderten: Vagantenlieder, Moritaten, deutsche Mystik, selbstkomponierte Tänze und andere Folksongs, von denen mein Langzeitgedächtnis manche bis heute rezitieren kann.

Plakat: Thomas Ziebarth

Via Bundesbahn-Schlafwagen gingen wir dann auf Tour. Bei unserem ersten Auftritt im Nörgelbuff in Göttingen wurden wir um die Gage gelinkt, dann spielten wir in Clausthal-Zellerfeld vor ca. achthundert Bergbau-Studenten im Audimax. Irgendwann landeten wir für zwei Konzerte in Stuttgart. Weitere Etappen sind mir entfallen oder ausgefallen, aber bei unserem letzten Auftritt, einem Stadtfest, standen wir auf der Bühne vor dem Bonner Rathaus und spielten Drei Chinesen mit dem Kontrabass, was perfekt zu uns passte: Thomas Ziebarth spielte die Bouzouki, Diethard Hess sein Guitarrón, einen mexikanischen 6-Saiten-Bass, und ich spielte meine Gitarre.

Als die Elstern aus England zurückkamen, waren wir plötzlich zu viele auf der Bühne.

Elster Silberflug

Ich, für meinen Teil, meinte genug gelernt zu haben und tingelte alsbald alleine durch die Einkaufsstraßen, gelegentlich begleitet von meinem musikalischen Backbone Peter Markl. Oder von Norbert aus unserer Michelauer Nachbar-WG, der mich mit seinem Bus herumfuhr und meine Darbietungen mit seinem riesigen schwarzen Hund bewachte, was mir manchen Ärger mit Besoffenen ersparte.

Eines Tages, auf dem Rückweg von einer Tour, kam mir in Norberts Bus eine Melodie in den Sinn, die mich tagelang nicht verließ. „Krocodiles“ ist eine melancholischen Kiffer-Ballade, die ich mit Peter Markl zusammen sang und die auf der Schallplatte „Musik aus dem Odenwald“ (Der Grüne Zweig Nr. 50) veröffentlich wurde.

Krocodiles   (Oigen 1975)

There’s a song in my ear
salty like tears

of a krocodile
there’s no smile
and – there is no face in the mirror.


When I come home I am so alone
there’s no one
the dish ist not done
and

there is no word on the paper.

I’m sitting down, smoking alone
green green grass
it’s a heavens mess
but l’ve lost

the key of fortune.

Oigen, der Sänger vom Frankenschlag

Der Frankenschlag

Mit meiner jungen Familie war ich mittlerweile auf einem Hügel südlich des Vogelsbergs gelandet. Auf meinen Wanderungen hatte ich dort ein achteckiges turmartiges Gebäude entdeckt, das der Anthroposoph Kurt Theodor Willmann in den dreißiger Jahren eigenhändig aus Vogelsberger Basalt erbaut hatte. Die Fensterbögen aus Tuffstein waren anthroposophisch-künstlerisch ausgestaltet.
Der ‚Frankenschlag‘ wurde für die nächsten Jahre unsere Heimat. Auf diesem Hügel, etwa zwei Kilometer vom nächsten Ort entfernt, lebten wir als Aussteiger ohne fließendes Wasser und ohne Strom. Ich hoffte D. H. Thoreaus Idee von Walden oder Leben in den Wäldern in der Familie nacherleben zu können. Wir hatten ein Stück Land, das wir zum Teil urbar machten. Das Heu der Wiese überließen wir der Nachbarkommune, die uns dafür Käse und Brot gab. Mit dem Maler Karl Möller gründete ich die Vogelsberger Kunstgenossenschaft. Meine Tochter kam auf dem ‚Frankenschlag‘ mit der aufgehenden Julisonne zur Welt. Die Hebamme schaffte es gerade noch im letzten Moment zu uns auf den Berg. Kaum war sie weg, vergrub ich die Nachgeburt im Komposthaufen, auf dem im nächsten Jahr besonders gutes Marihuana wuchs.

Vom Frankenschlag aus brach ich als ‚Oigen, Sänger vom Frankenschlag‘ zu meinen Raubzügen auf. Meist spielte ich Lieder aus dem Repertoire der Elster Silberflug, aber auch englischsprachige Folk-Songs. Mit der Zeit spürte ich jedoch eine gewisse Unzufriedenheit mit meinem Programm und versuchte, eigene Lieder zu schreiben, Bob Dylan-Songs in deutscher Sprache zu interpretieren und begann, Tolkiens Gedichte von aus dem ‚Herrn der Ringe‘ zu vertonen.
1978, fand ein Konzert statt, zu dem viele Musiker der Odenwald-Region[8] unplugged auftraten, Peter Markl und ich waren auch dabei.

Mit Peter Markl beim „Musik aus dem Odenwald“-Konzert

In den Liner Notes zu „Emma Myldenberger“ 1978/2005 schreiben Walter Nowicki und Michel Meyer über „Musik aus dem Odenwald“ (Der Grüne Zweig 50):„(…) Sie enthält Ausschnitte des Festivals vom 24. und 25.9.1977 in der Gewerbeschule Weinheim, aufgenommen von Günter Pauler, dem Inhaber des Stockfisch-Labels, und abgemischt von Mitveranstalter Hermann von Löwensprung. Gefeiert wurde damals der siebte Jahrestag der Gründung von Werner Piepers Buchverlag Grüne Kraft. Die LP erschien in zwei verschiedenen Hüllen: Die eine wurde von Thomas Ziebarth gemalt, bekannt von Elster Silberflug (www.elster-silberflug. de) und Turwan her, die andere von Cornelius Fraenkel. (…) Auflagen: je 500 Stück. Im Jahre 2003 gab es „Musik aus dem Odenwald“ dann auch auf CD (Sireena 2018), und zwar mit eingefärbter Hülle (die Fassung von Thomas Ziebarth) und fettem Heftchen im Digipak.
Der Silberling enthält sieben Zusatzstücke, allerdings keines von Emma Myldenberger. Weitere Gruppen dort unter anderen: Odenwald-Express (mit Ax Genrich, Biber Gullatz, Seppl Niemeyer, Reines Pauker u.a.), Marktplätzchen (mit Biber Gullatz, Reines Pauker, Ax Genrich, Jogi Karpenkiel und Seppl Niemeyer) und Zeitenwende (mit Ax Genrich u.a.).


Mani und Gunhild Deis-Friese, die zufällig beim Konzert vorbeischauten, wurden auch auf die Bühne gebeten und sind mit ihrer Version von „Es geht über den Main eine Brücke aus Stein“ unvergesslich geblieben.

Straßenmusik…

„Tingeln“, wie wir Straßenmusik nannten, war mir deshalb am Liebsten, weil es für mich relativ stressfrei war. Es musste niemand stehen bleiben und jedem stand frei, meinen Vortrag zu belohnen. Natürlich half ich mit Sprüchen wie
Sowie das Geld im Koffer klingt, der Sänger gleich viel besser singt kräftig nach.

Der Straßenmusiker

Manchmal mit, manchmal ohne Peter Markl spielte ich mittlerweile ein Programm aus Liedern der Elstern, internationalen Folksongs, Dylan, Donovan und immer mehr eigene Lieder. Vor alten Damen konnte ich herrlich Dat du min Leevsten bist schmachten. Ich hatte kein schönes, aber ein lautes Organ und verdiente nicht schlecht, wenn ich an einem bitterkalten Wintertag auf dem Nikolausmarkt in Stuttgart sang oder an brüllendheißen Sommertagen in der B-Ebene der Frankfurter Hauptwache jodelte. Einmal vermerkte die Nachtausgabe der Abendpost in der Lokalrubrik: ‚Er ist wieder da!‘
Mein Lied, das meine Pausen ankündigte, hieß: „Für die Leute“

Song & Cartoon: Oigen ca.1978

Da meinen Zuhörern die altdeutsche Sprache mancher Lieder kaum verständlich war, begann ich, die Lieder zu erklären. Dadurch blieben immer mehr Leute stehen. Der künstlerisch frustrierende Haken war: Sowie ich das angesagte Lied zu singen begann, löste sich die Traube auf und es blieben nur ein paar Schulmädchen vor meinen Gitarrenkoffer sitzen. Also wurden meine Ansagen, die ich im Talking-Blues-Stil vortrug, immer länger und verdiente so das Geld, das wir dringend brauchten, denn wir lebten damals zu viert von kaum vierhundert Mark im Monat.[9]

Das Forum, eine Location der Stadtsparkasse Frankfurt, lud mich zweimal ein, bei der Eröffnung einer Ausstellung zu spielen. Ich erinnere mich auch an eine Veranstaltung in der B-Ebene der Hauptwache, „Jazz am Mittwoch“ oder so ähnlich. Ich stand da mit meiner Gitarre und war gerade am Erzählen[10]. Die Leute lachten und warfen Geld in den Koffer, bis irgendein Blödmann auftauchte, um meine Show zu stören. Der Typ baute sich mit einem fetten Stereoradio vor mir auf, drehte es immer lauter und begann dazu zu grölen. Er war besoffen, hatte seinen Spaß und ich vermisste Norbert mit seinem großen schwarzen Hund. Um uns herum stand eine große Traube von etwa 100 Leuten.
Alle schauten gespannt zu, aber keiner traute sich etwas unternehmen. Ich war ratlos. Ich wusste zwar, dass ich hier auf der B-Ebene als Unikum Narrenfreiheit genoss, aber nur geduldet von mächtigeren Kräften aus der Kaiserstraße.

Der Typ war echt besoffen. In meinem mittelalterlichen Lied ging es um Liebe, Gram, Schmerz und Tod und so sang ich immer lauter. Das traurige Lied triefte wie altes Fett einer Sachsenhäuser Pommesbude, worauf der Typ das Radio schließlich leiser drehte und zuhörte. Plötzlich hörte ich Schläge und Trampeln. Der Spinner begann, sein gutes, vermutlich frisch geklautes Stereoradio zu zerdeppern. Er trampelte darauf rum, denn ich hatte ihn (vermutlich mit dem Lied: Es taget in Österiche) voll unter Gürtellinie erwischt.
Nun schämte sich der Suffkopf, trat nochmals auf sein Radio und warf es in einen Papierkorb. Dann kam er nach vorne in den großen Kreis, der sich um mich gebildet hatte und legte sich auf den Boden, direkt vor meinen Gitarrenkoffer. Da lag er nun, lieb und brav, und lauschte meinen Gesängen.
Ich sang weiter und die Leute klatschen erleichtert. Ein Geldregen flog über den Burschen am Boden in meinen Koffer hinein.

Währenddessen fingen einige Techniker vom Hessischen Rundfunk damit an, eine Bühne aufzubauen. Sie hatten schon die ganze Zeit hinter mir gewerkelt und begannen große Scheinwerfer aufzustellen. Richtig dicke Dinger. Für die Herren Techniker war ich nur ein Hanswurst und so schoben sie mich von hinten zur Seite und störten meinen Vortrag.
Ich selbst bin von Natur aus friedlich, aber mein neuer Fan am Boden vor meinem Koffer war es nicht. Ich sang gerade Avecce la Mamotte als er sah, wie die Roadies mit mir umsprangen. Für seinen Zustand unglaublich flink stürzte er sich auf den nächsten Techniker und schlug zu. Er traf und legte sich dann wieder wie ein braves Hündchen vor meinen Koffer.
Ich sang gerade „…und wenn ich einst gestorben bin /Avecce la mamotte – als die Techniker auf meinen Fan losgingen. Der setzte der sich professionell zur Wehr, unterstützt von bisher unbekannten Randgestalten. Es entstand ein großes Geschubse, während ich weiter sang und mit einem Fuß versuchte, meinen Gitarrenkoffer zur Seite zu schieben. Manche Zuhörer schrien hysterisch, andere lachten Tränen. Ein großer Scheinwerfer stürzte um und zerknallte laut. Während Schläge ausgeteilt wurden und meine Zuhörer auseinanderstoben, versuchte ich meinen Gitarrenkoffer mit dem Geld in Sicherheit zu bringen. Dann war alles vorbei und ich verzog mich. Adrenalingeschüttelt packte ich meinen Kram und trampte heim, wo ich total erschöpft wie üblich für drei Tage zum Pflegefall wurde.

Mein Song Nur ein Penner frei nach Only a Hobo von Bob Dylan entstand nach anderen Erlebnissen an der Frankfurter Hauptwache.

Nur ein Penner                  (Oigen, 1975)
Als ich einmal an der Hauptwache steh‘,
taten mir die Füße weh,
ich setzte mich an die U-Bahn Ecken
da sah ich einen Penner verrecken.


Ref: Es ist nur ein Penner wen stört das schon
Sang sein Leben keinen rechten Ton
niemand beweint ihn das ist nun der Lohn
es ist nur ein Penner wen stört das schon.


Am Abend in den Park getrollt
die Zeitung untern Kopf gerollt
mit den Kumpels hat er die Flasche geteilt
und nur beim Essen hat er sich beeilt
Ref: Es ist nur ein Penner …


Es braucht nicht viel zu sehen wie ein Leben verrinnt
wie manch einer täglich neu beginnt
und abends liegt er wieder im Dreck
und die Flasche ist leer und das Geld ist weg.
Ref: Es ist nur ein Penner …


So nehm‘ ich den Alten bei der Hand,
erzähl‘ ihm was von ’nem gold’nen Land
wo der Schnaps und der Rotwein billig ist
und ihm keiner auf seine Sachen pisst.


Es ist nur ein Penner wen stört das schon
sang sein Leben keinen rechten Ton
niemand beweint ihn das ist nun der Lohn,
es ist nur ein Penner wen stört das scho
n.

Die Grüne Raupe

Die psychedelische Revolution war der Nährboden der Landkommunen-Bewegung. Diese war eng verzahnt mit der Antiatomkraft-Bewegung und bildete das Rückgrat dessen, was sich ursprünglich unter dem Grünen Banner versammelt hatte. Der ‚Achberger Kreis‘, Robert Jungk, Josef Beuys (den ich in Kassel und Gießen erlebte) Philosophen, Künstler und weitsichtige Köpfe fanden zusammen, um über eine ökologische Gegenbewegung zur etablierten Politik zu diskutieren. Tausende junger Menschen hatten auf ihren inneren Reisen erfahren, dass das Leben auf diesem Planeten ein vernetztes, sensibles Gebilde ist. Die Botschaft hieß: das planetare Mutterschiff GAIA retten! Jeder machte sich auf seine Weise auf den Weg – doch leider wurden manche Wege zum Irrweg, wie sich später herausstellen sollte.

Der Wahlkampf der GRÜNEN wurde von dem Konzertveranstalter Fritz Rau unterstützt, der viele Musiker via ‚Grüne Raupe‘ auf den Weg zu dem Salat schickte, den uns die GRÜNEN heute servieren. Aber am 6. März 1983, nachdem klar war, dass es die GRÜNEN als Partei in den Bundestag geschafft hatten, standen wir noch begeistert auf der Bühne: Zeitenwende (die neue Formation von Ulli Freise), Bernies Autobahn Band, Konstantin Wecker und andere, die die ‚Grüne Raupe‘ begleitet hatten, sangen The Times They Are A-Changing. Niemand ahnte zu dem Zeitpunkt, dass diese Partei zu olivgrünen Transatlantikern mutieren würde, die eines Tages sogar Waffenexporte gutheißen könnte.

Die Zeiten müssen sich ändern  Oigen 1977
Frei nach Times they are a’changing von Bob Dylan (Überarbeitung 2024)

Kommt her ihr Leute woher ihr auch seid,
macht die Ohren auf und seid bereit,

wir stecken hier bis zum Hals im Dreck,
so weiter machen hat keinen Zweck.
Wir packen es jetzt oder wir packen es nie,
denn die Zeiten müssen sich ändern.

Ihr Lobby-Karrieristen im Bundestag
wir schließen mit euch keinen Vertrag
ihr seid besoffen und ihr seid von Sinnen
und ihr wollt die ganze Welt gewinnen.
Macht den Weg frei, verschwindet,
geht zu dem der euch bezahlt,
denn die Zeiten müssen sich ändern.

Ihr Schreibtischmörder der Wissenschaft,
die halbe Welt habt ihr hingerafft,
mit Gift und Schwindel und falschen Prognosen,
jetzt sitzt ihr da und scheißt in die Hosen,
Hört auf, was ihr treibt ist schwarze Magie
denn die Zeiten müssen sich ändern.

Und ihr Schreiber und Hetzer im ganzen Land
schon einmal habt ihr alles verbrannt,
den nächsten Krieg kündigt ihr bereits an
einen Krieg, den niemand gewinnen kann.
Verpisst Euch, es reicht, genug ist genug,
denn die Zeiten werden sich ändern.

Öko-Ambitionen und Protestlieder

Die Landkommunen-Bewegung der 1970er Jahre war ein bundesweites Phänomen, über das Soziologen vermutlich schlaue Texte verfasst haben.
An manchem Wochenende pilgerten Massen von Suchenden in den Vogelsberg, meist zum Altenfelder Hof (bei Gedern), den der Maler Karl Möller mit seiner Familie bewirtschaftete. Sie wollten etwas von Gartenbau und Ziegenzucht erfahren oder ein Haus mit Hof finden, um dort ihre Städter-Träume zu verwirklichen, bis dann der Holzwurm die Hütte und der Wind die Scheune zerlegen würde. Wir organisierten den gemeinsamen Einkauf von BIO-Food, teilten die Ernte der Gärten und andere Erzeugnisse. Die Männer redeten viel schlaues Zeug wenn der Tag lang war, bis ihnen die Frauen mit vollkommen unkreativen Alltäglichkeiten wie Wollwäsche waschen und Holz holen auf die Füße stiegen.

Das Leben auf dem Land brachte auch manchen Ärger mit sich, nicht nur wegen ideologischer Streitigkeiten in Sachen Kinderernährung. Zum Beispiel hatten wir auf dem Frankenschlag Probleme, weil wir während Schleyer-Fahndung öfter von Polizei-Wagen besucht wurden, was die Dörfler gegen uns noch misstrauischer machte. Damals wurden alle Land-WGs und jede Aussteigerfamilie bundesweit verdächtigt, den von der RAF gekidnappten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer im Keller versteckt zu halten.
Ein andermal besuchte die Polizei unser Grundstück, um unseren Kompost mit den drei riesigen Graspflanzen zu inspizieren. Sie waren vermutlich von einem Landwirt mit dem ich Ärger hatte darauf hingewiesen worden. Also zeigte ich auf dessen rotleuchtendes Feld im Tal und erklärte den Beamten, dass der Bauer dort großflächig OPIUM anbauen würde. „Den sollten sie sich mal näher anschauen“, rief ich ihnen nach.

Irgendwann reichte es mir. Da wir unser Trinkwasser häufig am Brunnen im Innenhof der Büdinger Schlosses in drei 15-Literkanister abfüllten, besuchte ich bei der Gelegenheit die Polizeistation und fragte nach dem dortigen Chef. Der hatte natürlich schon von uns gehörte. Ich erklärte ihm, dass wir friedliche Leute wären, die biologischen Landbau betreiben. Ich würde ansonsten für eine Landwirtschaftszeitung namens KOMPOST schreiben und gelegentlich als Straßensänger auftreten. Wir hätten aber keinen Herrn Schleyer im Rübenkeller und besäßen keine Waffen, außer der alten Sense, an der ich mir kürzlich den Daumen verletzt hätte, die aber selbst für einen Bauernaufstand absolut untauglich wäre. Von da an war Ruhe. Kommunikation heißt das Zauberwort!

Plakat aus meinem Gitarrenkoffer, gemalt von Gerd Baumann

Die Zeit im Vogelsberg und die Erfahrung mit dem, was ich auf dem Land erleben sollte, inspirierten mich dazu zwei alte Lieder umzuschreiben, die mein Programm alsbald erweiterten. Nach der Melodie von ein Klein wild Vögelein fragt sich ein bislang Raiffeisen-gläubiges Bäuerlein, ob er nicht nach allen Regeln der Kunst verarscht wird? Der Hintergrund: Innerhalb weniger Jahre wurde eine Vielzahl Bauern in den Konkurs getrieben, während Monsanto-Raffkes die Landschaft flächendeckend vergiften und ruinieren durften, unterstützt von jenen kriminellen CSU-LandwirtschaftsministerInnen, die nichts unternahmen, um das Aussterben von Bienen und Tausenden anderen Pflanzen und Tieren zu verhindern. Gewinner sind Großagrarier, die ihre Schäflein (von Brüssel fett vergoldet) im Trockenen haben, während das deutsche Landvolk in seiner großgemusterten Wohnzimmertapetenhölle sitzt und sich fragt, warum es die Jugend in die Stadt zieht.
Wir waren die Jugend, die aus der Stadt kam. Mit vielen Flausen, aber Fleiß und Mut und Liebe zum Land. Doch man hat uns argwöhnisch bespitzelt und unsere Weigerung, ein schickes, neues Auto zu fahren kam in der Wertewelt der Landbevölkerung einer Gotteslästerung gleich. Und es machte uns verdächtig.

Ich denke, dass die meisten, die damals in Landkommunen und anderen Gemeinschaftsformen versuchten, einen neuen Lebensweg experimentell zu erforschten, ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Jetzt bleibt uns nur zu hoffen, dass sich die Tennessee Wiggler und andere Würmer, die wir in unseren Komposthaufen im Vogelsberg hegten, tüchtig vermehrt haben, um die industriellen Agrarsteppen eines Tages neu zu beleben.

Das Bäuerlein 
(Oigen /Trad. 1976), nach der Melodie von „Klein wild Vögelein“

Es saß ein kleines Bäuerlein
auf seinem großen Felde
es weinte leise Stund um Stund‘
verstand nit mehr die Welte.


Ihr Herren von der Industrie,
ich hab doch all ’s gegeben
was der Boden braucht,
wenn’s Korn ihn schlaucht,
doch will er nit mehr leben.


Dann gib ihm mehr von dem Nitrat
und all den guten Sachen,
er wird schon wieder leben bald
und du wirst wieder lachen.


Die Lerche singt schon lang nit mehr,
der Wurm ist ausgestorben
Ach ihr Herrn, ich will nit mehr,
ihr habt mirs Land verdorben.
Wo’s doch so viele hundert Jahr,
uns alle gut tät nähren
Jetzt isses tot, kein Wurm mehr drin,
ich begrab‘ mein Land in Ehren.

Das zweite Lied aus meiner Vogelsberger Zeit bezieht sich auf die alte Tradition (der Schweden und Kaiserlichen) über das Land zu ziehen, um die Landbevölkerung auszuplündern. Heute sind es die Agrar-Industrie und die Banken, die dem Bäuerlein den Pakt mit dem Teufel zur Unterschrift vorlegen.

TROM TROM TROM  (Oigen / Trad 1976) Foto ep: Frankfuter Rundschau

On the Road

Eines Tages, nach einem Familienbesuch, lief ich über den Seltersweg, die Gießener Einkaufsstraße. Vor dem Karstadt standen Mani und Gunhild und sangen mit ihren sanften Stimmen. Wie bereits erwähnt waren die beiden auch bei dem „Musik aus dem Odenwald“-Konzert dabei gewesen.

Oigen on the Road

Einige der Lieder, die sie spielten, waren aus dem Silberflug-Repertoire und so stellte ich mich zu ihnen und sang mit. Da ich an dem Nachmittag ein Vorstellunggespräch haben sollte, trug ich meinen grünen Cord-Anzug, in dem ich geheiratet hatte. Im Gegensatz zu mir haben Mani und Gunhild wunderschöne Stimmen, aber ich hatte meine Sprüche drauf und machte den Zuhörern deutlich, dass der Künstler nicht vom Lied allein leben würde.
Was ich nicht wusste war, dass mich auch der Geschäftsmann hörte, bei dem ich mich am Nachmittag vorstellen sollte. Wie ich die Leute dazu brachte stehen zu bleiben um ihre Taler in den Gitarrenkoffer zu werfen, schien ihn zu beeindrucken. Er sah in mir wohl den geborenen Verkäufer und gab mir den Job was kein Fehler war, denn im folgenden Jahr sollte er an mir viel Geld verdienen.

Auf diesem Weg fand ich meinen Broterwerb und wurde für die nächsten 25 Jahre ‚Handlungsreisender‘, eine Tätigkeit, die sich perfekt mit meinen überregionalen Vernetzungsambitionen verbinden ließ. Nach meiner Arbeit war ich bundesweit in Projekten, bei Freunde und Landkommunen zu Gast und erzählte in alter Bardentradition Geschichten. Manchmal, wenn es sich ergab, sang ich auch noch auf der Straße.

Die Lü-Leut

Im tiefen Odenwald standen die Tipis der Lü-Leute, einer fränkischen Korbflechter-Gemeinschaft, die für mehrere Jahre mit Zirkuswagen und Indianerzelten in Deutschland unterwegs war. Ob ich sie in ihrem Winterlager traf oder beim großen Sunwheel Gathering[11] – wann immer ich kam, hatten sie ein Tipi für mich, wenn ich nicht im Bus schlafen wollte. Die Lü-Leute bauten große Öfen und kochten auf Festivals und bei Veranstaltungen. Sie waren Deutschlands Hog Farm-Kommune. Sie lebten mit ihren Kindern ganzjährig wie Nomaden im Freien und wenn ich kam, gab es in einem mollig warmen Zelt oder Wagen süßen, schwarzen Tee, Geschichten und Kräutelein, bis das Häuptelein[12] zerbarst.

Laufi[13] von den Lü-Leuten erzählt im nachfolgenden Text, wie mich die Truppe damals erlebt hat.[14] Heute nennt man das Fake-News, denn ich besaß nie eine Fransenlederhose, geschweige denn einen BMW, aber lassen wir Laufi mal den Lauf, denn damals war es üblich, sich humorvoll zu karikieren.

„Auf unserer mittlerweile vier Jahre dauernden Fahrt mit Treckern, selbstgebastelten Planwagen und Tipis von der Ostsee in den bayerischen Wald machten wir eines Tages Pause am Freibad in Rothenburg ob der Tauber. Mit einer 30 km Etappe hatten wir für heute eh genug Strecke zurück gelegt, die Kinder quengelten und es wurde Zeit, das Tipi aufzuschlagen und ein Abendessen zu kochen. Es war kein Trinkwasser mehr da, und so marschierte Kattel mit Kanistern los. War es ihr rot-grün-blau geringelter Minirock oder einfach nur das Gewicht der mit jeweils 20 Liter Wasser gefüllten Kanister- auf jeden Fall wurde sie auf dem Rückweg von einem etwas verwegenen, jedoch freundlich-schüchtern grinsenden jungen Mann begleitet, mit Rucksack, über der Schulter hängender Gitarre und den schweren Wasserkanistern.
Er trug eine nagelneue Fransenlederhose (an dessen Seite ein teures Messer baumelte), außerdem trug er ein Pfadfinderhemd mit Elvis Presley-Badge.

Im Tipi brannte bereits das Feuer und so luden wir ihn ein auf eine Tasse Tee mit Milch und viel Zucker. Das war das erste Mal, dass wir den Oigen trafen, und es sollte in, von gutem Schicksal geleiteter Regelmäßigkeit, in den folgenden Jahren immer mal wieder vorkommen, dass sich unsere Wege kreuzten. Doch ich will nicht vorgreifen. In jenen frühen 1980er Jahren reiste er als fahrender Musiker durch die Lande. Im Tipi lauschten wir abwechselnd den Klängen seiner Western-Gitarre und den lustigen Geschichten, die er stundenlang ohne Atempause zu erzählen wusste. Wir erfuhren, dass er sich schon lange theoretisch mit dem Überleben in der wilden Natur beschäftigt und dass er ein 37-teiliges Schweizer Messer besaß, einen supertollen Daunenschlafsack ohne Plastik und von einer Überlebensportion Vollkornkekse bis zum Schuhwerk alles dabei hatte, um von heute auf morgen im deutschen Wald zurecht zu kommen.

Wir waren ja irgendwie auf dem gleichen komischen Trip, nur ein bisschen schmuddeliger und mit einem Fernseher und tickendem Wecker im Tipi. Das waren jedoch, wie Oigen gleich richtig bemerkte, nur nette unwichtige Unterschiede aus der materiellen Welt. Im Großen und Ganzen fühlten wir uns gleich als Verbündete. Wir waren ja sowas wie eine fahrende Großfamilie, und nun hatten unsere Kinder plötzlich einen Onkel mehr. Nach drei Tagen verabschiedete er sich mit einem Bob Dylan Ständchen aus Rothenburg.
Im nächsten Herbst errichteten wir unser Winterquartier an einem abgelegenen Platz im Odenwald, an den uns Kollege Werner Pieper führte. Jener Pieper war ein Freund von Oigen, und so trafen wir uns das nächste Mal wieder. Wir luden ihn ein, seine Survival-Werkzeuge doch einmal für 14 Tage bei uns in Matsch und Schnee in der Praxis auszuprobieren, mit einem dankbaren Lächeln nahm er an und erschien nur wenig später. Er nächtigte in seiner Hängematte aus dem 3. Welt-Laden, schnitzte den ganzen langen Tag mit den verschiedensten Messern die unsinnigsten Sachen und übte sich im Feuermachen. Die größte Freude bereitete ihm, dass es endlich keine Waschmaschine mehr gab und man die Wäsche im eiskalten Bach waschen musste. Abends am Lagerfeuer philosophierten wir stundenlang über Kommune-Leben, Stammesgesetze und so weiter. Dabei rausgekommen ist schließlich, dass wir unsere Korbwaren, die wir zum Verkauf herstellten, auf seine Initiative hin um fast den doppelten Preis verkauften, weil es plötzlich nicht mehr nur einfache praktische Wäschekörbe waren,, sondern hergestellt mit einem Flair von alternativem Abenteuer und Tipi-Romantik. Oigen lieferte uns all die richtigen Slogans und Schlagwörter dazu, und wir konnten uns endlich wieder Tabak und Kaffee leisten.

Irgendwann zog es ihn dann zurück in seine zentralbeheizte Zwei-Zimmer Wohnung in Gießen, was wir alle gut verstehen konnten. Im Sommer darauf machten wir Station auf einem Indianer-Camp im Allgäu, wo wir Geld verdienen konnten indem wir die Verpflegung der 20 Rothäute und 200 Besucher besorgten. Oigen war, na klar, auch da, ging es doch darum, dass die Indianerhäuptlinge uns deutschen Nachwuchskräften einiges an Wissen zu vermitteln hatten. Ich glaube, einen dieser langatmigen Vorträge hat sich Oigen auch reingezogen. Ansonsten war er zu unserer Erheiterung und Steigerung des Umsatzes meistens hinter unserem Stand zu finden, wo er diesmal hauptsächlich schmutzige bayerische Folklorelieder zum Besten gab. Zwischen den Liedern pries er immer wieder lautstark unser gutes Essen an und redete den Leute die Linsensuppe und das Müsli praktisch in den Mund. Beim abschließenden Schokoladenpudding-Wettessen nominierten wir ihn als Schiedsrichter, und so gewann dann auch das hübsche Mädchen aus Karlsruhe, mit der er heute noch befreundet und die uns dafür dankbar ist.

Im nächsten Jahr verbrachten wir den Winter am Bodensee. Hierher kam Oigen im schwarzen BMW vorgefahren, hinten drin eine Stange, behangen mit der neuesten italienischen und französischen Mode. Auf dem Beifahrersitz ein Aktenkoffer mit verschiedenen teuren Uhrmodellen – er arbeitete mittlerweile als Vertreter und seine Kleidung bestand nun aus einem schicken Anzug, auf den die Männer bei uns gleich neidisch wurden. Als erstes packte er seinen neuen Batterie-Rasierapparat aus, um sich in Laufis Planwagen die Stoppel vom Kinn zu rasieren, dann aßen wir gemeinsam Abendbrot, tranken Unmengen von demselben Tee mit Milch und Zucker, nach dem Oigen mittlerweile süchtig geworden ist, lauschten seinen neuesten Hits auf der Gitarre und dann musste er auch schon wieder weiter zur nächsten Boutique, denn die Termine drängten. Wir waren alle neu eingekleidet mit blütenweißen Overalls, dessen praktische Vorzüge Oigen in einem 20minütigen Redeschwall erklärte.

Ich könnte jetzt noch weitere Begegnungen mit ihm schildern, doch würde das wohl den Rahmen sprengen. Er hat bei uns jederzeit einen Stammplatz an der Tipi-Feuer Runde, kriegt immer was zu essen, wir .freuen uns darauf, mit ihm jederzeit den größten Quatsch und auch die vielen verzwickten Dinge des Universums zu besprechen, werden bei jedem Besuch reichlich mit seinen Liedern, der guten Laune und praktischem Schnickschnack wie elektrischen Zahnbürsten, die er zur Zeit verkauft, überhäuft. Jawoll, er ist ein Teil von diesem nervenaufreibendem Leben auf deutschen Landstraßen und versteckten Waldparkplätzen. Und da gehört er hin.“

Lü-Leut Camp Foto: Laufi vor seinem Tipi

Eine Erinnerung habe ich auch noch dazu: Als die LÜ-Leute im Eiterbachtal lagerten, spielte ich in Mannheims Innenstadt meine deutsche Version von ‚Proud Mary‘ – „Rollen wie die Steine“.  Die dritte Strophe geht so: „Ich ging dann hinten in die Wälder / wo die Leute in Tipis leben / Die haben kaum zu essen / doch immer was zu geben / ich sag ihnen Dankeschön…und dann der Refrain: Große Räder werden sich drehen / und du wirst dich leben sehen – und rollen / rollen wie die Steine.“
Nachdem ich das Lied beendet hatte, kam ein Mann näher, der eine Weile zugehört hatte. Er fragte mich, ob hier wirklich irgendwo Leute in Tipis leben. Ich sagte. „Klar, im Eiterbachtal, für die singe ich hier!“
Das war der Tag, an dem der erste 20-Mark-Schein in meinen Koffer flatterte.

Netzwerker

Durch meine berufliche Tätigkeit war ich ständig in ganz Deutschland unterwegs. Ich stellte Kontakte zwischen Gruppen her, erzählte den aktuellen Tratsch, brachte meine Geschichten unter die Leute und nachts am Feuer sangen wir zur Gitarre.
So, wie auf der einsam gelegen Waldlichtung bei Langenschiltach im Schwarzwald. Dort fanden große Sommertreffen statt, Ferienlager für die Kinder unserer Familien oder Workshops unter Anleitung traditioneller Indianer, wie dem Lakota Brave Buffalo oder Philipp Deere. [15]
Oder im Schwäbischen: Dort leitete Julian Pawlik Bioenergetik-Workshops und im Fränkischen konnte, wer Mut und Nerven hatte, bei Raymond Martin[16] reinschauen. Ich erinnere mich auch an Jam-Sessions mit Rainer Ehrenpreis in Jagsthausen, zur Anfangszeit der von Dieter Duhm inititierten ‚Bauhütte‘.

Einerseits genoss das Vagabundieren, aber gleichzeitig hatte ich mein Brot zu verdienen. Die Arbeit wurde härter, das Fahren stressiger, mein Pensum immer größer. Und wie das, was mal unsere Szene war zerfiel, verflüchtigte sich auch mein Bedürfnis, ständig bei Freunden auf dem Fußboden oder Sofa zu schlafen. Ich war sehr müde, ging deshalb zum Übernachten immer häufiger in Pensionen und genoss es, für mich zu sein. Ich brauchte Ruhe.

DAOBLUES

Etwa 1980 hatten einige Freunde begonnen, Tai-Chi Kurse zu besuchen. Auch mir wurde das dringend empfohlen. Der Master of Tao, Gia Fu Feng, published bei Random Hause mit seiner I Ging- und Tao Te King-Version, einstiger Tai Chi Lehrer im Ensalen Institut und wie man munkelte Ex-Lover von Joan Baez, war einer der letzten Meister seiner Tai Chi Tradition. Jährlich besuchte er Europa und insbesondere seine Schüler in Deutschland, was ihm Mittel verschaffte um sein Bootcamp auszubauen, das in der Nähe von Colorado Springs am Rand eines Nationalparks lag.
1982 war ich in Colorado für 10 Tage sein Gast von Gia Fu Feng, der 1985 verstarb. In dem Workshop, den ich vor meiner USA-Reise in der Nähe von Koblenz besucht hatte, übten wir kaum Tai Chi, sondern stromerten durch die Wälder. „Ten miles a day“ war Gia Fu‘s Mantra. Am letzten Abend erlebte ich eine unvergessliche Gitarren- und Trommel-Session mit einem amerikanischen Schüler von Gia Fu, der aus England angereist war.
Am nächsten Morgen malte Gia Fu Feng jedem seiner Schüler zum Abschied eine Kalligraphie. Der kleine Mann stand hinter einem alten Holztisch, darauf eine Vase mit ein paar Blumen mit Gräsern. Mit Pinsel und Tusche malte er chinesischen Zeichen auf ein Papier. Sein Tun war so schlicht wie vollkommen und ich war plötzlich in Tränen. Er schrieb:

Every Lift of Hand, every step of feet, there is nothing, thats not Dao.”

Ich bekam einen totalen Flash. Alles in meinem Leben, all die Wechselbäder meiner kleinen karmischen Welt, schienen ihren Sinn haben und waren Teil meines Weges. Es haute mich schlichtweg um und ich heulte Rotz und Wasser. Dann wieder musste ich lachen, als wäre ich übergeschnappt.
Die anderen schauten mich kurz an, aber fast jeder aus der Gruppe war irgendwann während des Workshops mal ausgeflippt, also war das OK. Ich beruhigte mich und mein Satori verflüchtigte sich schneller, als es gekommen war. Aber zuvor schrieb ich noch das nachfolgende Lied:

Daoblues    
 Oigen 1981 für Gia Fu Feng

My mindfuck got a diarrhoe
I’m sucking asshole in
I’m tired just like you and me
and nothing for to win
everything is Bullshit, you know what I mean
whats the difference between BHAGWAN and JIM BEAM
it’s the teatime-party, makin‘ me smarty
this is the stuff making me tough:
Ref: But every lift of hand and every step of feet
there’s nothing that’s not DAO, thats the point I bleed
Tears from my eyes, belly shakin‘ free
what was the price to meet – just me.


Gotta pain in my belly, gotta tremblin in my feet
the blood is running ralley, an epileptic beat
a mountain full of anger, suffering abnorm
brain ful1 of mindfuck, feeling like a storm
I lost all hope, I lost all faith,
always in trouble with the Hoochie Coochie maid
Ref: But every Iift of hand . . .


Where fox an deere meet, we have our dinner
and who is eating less, he is the winner
we creep through the mud and stumble through the water
you don ‚t remember if you son or daughter
we walk ten miles in an three hours and twenty
loosing everything and getting plenty
Ref: Cause every Iift of hand . . .


Now I do slow down and have a little tea
and do my work in consciousness of be or not to be
Feng once said: Have shit or not theres nothing in between
I try to have my shit in time, that’s my way to clean
I drive a/ong to Frankfurt then we’re going home
l ‚m happy and l ‚m thankful not anymore alone
Ref: Cause every Iift of hand . .

Peter Wong

Anfang der 1980er Jahre war ich oft in Schriesheim bei Peter Markl zu Gast. Seine Frau Jan Hutchinson, eine Engländerin, kochte uns regelmäßig englische Nationalspeisen. Dazu betranken wir uns und spielten Songs von Credence Clearwater Revival, die mir sonst stets ein Gräuel waren. Wir versuchten uns auch an Soulbrother Clifford von den Equals, Running Bear von Johnny Preston und anderen alten Hits.
Peter, der längst zum Punk mutiert war, spielte hin und wieder Dylan-Songs wie A Hard Rain oder Gates of Eden und zwar in einer Intensität, wie ich sie niemals mehr von einem anderen Dylan-Interpreten gehört habe. Das machte er aber nur so nebenbei, um mich zu ärgern. Musikalisch war er längst woanders, punkte eigene Songs oder spielte geniale Gitarren-Soli a la Hendrix oder Steve Ray Vaughan, was ihm keine besondere Mühe zu bereiten schien.
Den Song ‚Peter Wong‘, den ich im Suff zusammen mit Jan textete, haben wir (mit einem traumhaft gespielten Solo von Peter) mal aufgenommen. Der Text war unsere Art, ihm unsere Liebe zu zeigen, denn bereits zu der Zeit litt er an einer unbekannten Immunschwäche, die nach und nach seinen ganzen Körper ergriff und an der er dann leider viel zu früh verstarb. R.I.P.

Peter Wong Jan Hutchinson / Oigen 1982

His name is Peter Wong
all know he got a gong
he couldn ‚t get it right
every bloody night
but on the guitar he is strong.

But on the guitar he is strong.

He is fucking in de kitchen
He is fuckin‘ with the cat
but the only thing he’s fucking
is his stupid head
but on the guitar he plays mad,

but on the guitar he plays mad.

He’s so rude and rough
an assholism puff
he drinks a lot of rum
that’s why he cannot come
but on the guitar he is tough,

but on the guitar he is tough

He spits into the sink
shampoes his little thing
but when he touch de amp
looking like a vamp
his guitar starts to sing
,
his guitar starts to sing.

Peter Markl life at Altenfelder Hof, Foto: ep

Petra Kelly

Barbie und Ulli von Elster Silberflug hatten eine neue Gruppe mit dem Namen Zeitenwende gestartet. Je nach Größe des Gigs waren auch Jan Friede (Kraan) am Schlagzeug, die Geigerin Dorle Ferber (vormals Cochise) und andere mit dabei. Manche Gigs machten Barbie und Ulli auch zu zweit, so wie der in Singen, zu dem ich sie in meinem Ford Transit hinfuhr. Im Ratsherrensaal sollten sie anlässlich einer Veranstaltung der GRÜNEN zu spielen. Petra Kelly war als Rednerin angekündigt. Von ihrer Rede waren alle tief beeindruckt. Selbst Ulli, der sonst zu Sarkasmus neigt, begann von dieser friedensbewegten Taube als einer Jeanne D’arc zu schwärmen. So wie uns ging es damals Tausenden von Menschen.
Zeitenwende spielte und danach konnten wir mit Petra sprechen, der die Songs sehr gut gefallen hatten. Am nächsten Tag, auf der Rückreise, sprachen wir über diesen Grünen Engel. An einer Tankstelle, bei einer Pinkelpause kaufte Ulli den neuen STERN. Auf dem Cover war Petra Kelly mit Engelsflügeln dargestellt. Da hat uns ziemlich geflippt.

Petra wurde Fan von Zeitenwende und lud die Band zur Tour der Grünen Raupe ein. Deshalb waren sie mit Bernies Autobahn Band und vielen anderen Musikern am 6. März in Bonn, wo die Sinti-Gruppe um Rigoletto Winterstein im Keller der Veranstaltungshalle eine heiße Jam-Session abfeuerte, anstatt sich um die Wahlveranstaltung im Erdgeschoss zu kümmern. Gute Instinkte, könnte man im Nachhinein sagen.

Ich saß damals treu-doof im Saal und hoffte, dass sich die Zeiten wirklich ändern würden. Zeitenwende spielte gerade und alle waren in trüber Stimmung, weil man glaubte, es nicht geschafft zu haben. Aber dann bat der Sprecher um Aufmerksamkeit und plötzlich war klar: Die GRÜNEN sind im Bundestag – und  Zeitenwende legte erneut los, während sich die Weltpresse auf Petra Kelly und Otto Schily stürzten.

Vor der Bühne standen Heinz-Rudolf Kunze, Ulla Meinecke und Konstantin Wecker. Nach Zeitenwende spielte Konstantin Wecker. Es war das erste Mal, dass ich ihn live hörte und war von seiner Performance begeistert. Danach folgte Bernies Autobahnband mit Times are a-changing  von Bob Dylan. Wir standen gemeinsam auf der Bühne, hatten Tränen in den Augen und sangen mit. Der große Moment meiner Generation und wie sehr haben wir es verkackt!

Der ursprüngliche Spirit der Grünen und die Visionäre der Bewegung wichen bald den Realos und Brutalos a la Joschka Fischer. Kadergeschulte linke Wendehälse sahen ihre Chance und schlüpften aus der Lederjacke ins (später maßgeschneiderte)  Öko-Mäntelchen, während Petra Kelly immer blasser wurde.
Einmal besuchte ich sie auf Einladung des grünen Bundestagsabgeordneten Herbert Rusche im „Langen Eugen“ in Bonn. Es war eigentlich eine Schnapsidee, Petra so spät heimzusuchen, denn sie war noch bei der Arbeit und wollte nicht gestört werden. Aber als ich begann meinen Talking Blues zu rappen, den ich ihr geschrieben hatte, rief sie in den Nachbarraum:
„Gerd, Gerd, komm mal rüber, das musst du dir anhören!“
Langsam und offensichtlich sehr müde kam der ehemalige Panzergeneral Gerd Bastian herüber und ich fing noch mal von vorne an…

Friedenstäubchen             Oigen 1982, für Petra Kelly

Ich hab‘ ein Friedenstäubchen getroffen
das war vom Hoffen ganz besoffen
vom Hoffen auf die bessren Tage
wenn wir uns mit Kopf und Kragen
wieder in die Sonne wagen.


Ich sage Täubchen du bist blau
Großmutter war ’ne Natofrau
wenn sich Tauben mit Falken paaren
sollten sie stets Abstand wahren
drum schreib dir hinter deine Ohren
der Krieg hat nie nen Krieg verloren.


Täubchen trägt die Sprüche heiter
ich mach trotzdem friedlich weiter
na schön, sag ich du wirst schon sehn
wenn wir am demnächst zur Demo gehn
da werden Falken deine Federn reißen
und du wirst dich in die Hosen scheißen.


In Singen auf dem Ratsherrnstuhl
traf ich Petra die ganz cool
mit sachlich leichtem schnellen Ton
die Trilaterale Kommission
ins rechte Licht des Abends rückt
ich dachte: Frau ich wird‘ verrückt
Spitzen-Mutationsagent
der Bilderberg und Warburg kennt!


Ja, Leute auf, ich geh nach Bonn
sagt sie in einem schmackes Ton
und lächelt müde, Petra Pretty
und verschwindet im Intercity.
Ich gehe leise, sagt die Meise
82 auf die Reise
und singe Euch mein Lied vom Frieden
was habe ich denn mehr zu bieten.


Frau, du hast mich angeturnt
ich habe was von dir gelernt
runter vom Hocker und raus auf die Gasse
da wartet schon ne ganze Masse
Leute die es müde sind
dass die Herrschaft wieder mal spinnt.
Ich habe Hoffnung, dass wir’s schaffen
und immer mehr setzten sich zur Weh
r.

Tja, und dann haben sich Petra und Gerd erschossen, als hätten sie geahnt, was aus den GRÜNEN werden sollte…

Spraydosenblues

Bereits 1976 hatte der Sphinx Verlag in Basel ein kleines Büchlein namens Rotwang von dem Autor Tim Hildebrand veröffentlicht, das mich damals sehr beeindruckte – warum, weiß heute nicht mehr genau. Aber zu der Zeit glaubte ich ja auch (nachdem ich David Bowies Film Der Mann der vom Himmel fiel gesehen hatte), ein Außerirdischer zu sein.
Ähnlich, wie die heutige Bundesregierung in Corona-Fragen, haben wir damals die seltsamsten Dinge geglaubt. Jedenfalls trug ich an der Jacke einen Button mit der Aufschrift: „Mutate now, avoid the rush“ – ein Hinweis auf die kommenden Veränderungen der Menschheit.
Der Sprayer von Zürich war in den Medien, die US-Straßenkünstler wurden Stars und Tim Hildebrands Gedicht Spraycan Blues inspirierte mich zu einer deutschsprachigen Interpretation, die, wie auch bei meinen Dylan-Interpretationen üblich, wenig mit dem ursprünglichen Text zu tun hat.

Meinen „Spraydosenblues“ habe ich oft auf der Straße gespielt, was bei meinen Zuhörern bisweilen für Irritationen sorgte. Bei Sessions mit anderen Mutanten kam das Lied jedoch so gut an. Carl Ludwig Reichert, zum Beispiel, war zu der Zeit mit der Zündfunk Nachtausgabe auf Bayern 2 sehr populär. Er lud mich ein, meine Lieder live zu singen, darunter auch den Spraydosenblues. Motto der Sendung war übrigens: Erstes Interview mit einem Außerirdischen…

SPRAYDOSENBLUES  Oigen 1983, frei nach Tim Hildebrand

Spraydosenblues,
oh, ich hab den Spraydosenblues
Gib mit ne Dose und ich sprüh‘ Dir den Fuß
Ich habe den Spraydosenblues.


Ich bin so müde meine Dose ist leer
die Läden haben zu wo krieg ich Farbe her
da ist ne Brücke auf die bin ich scharf
ich werde erblühn wenn ich die sprühen darf
Ref: Spraydosenblues…


Haste ne Dose dann schreib einen Song
die Worte fliegen am besten auf Beton
wenn die Schriften flimmern und die Dose wird leer
dann bin ich ganz süchtig dann brauche ich mehr
Ref: Spraydosenblues…


Bridge:
Ich laufe durch die Straßen, schaue durch die Massen
sprühe schönen Mädchen auf den Fuß
laufe durch die Straßen, schaue durch die Massen
suche Graffiti mit Vision…


Vater und Mutter die hatten einen Kutter
auf Deck malten sie Graffitiphilosophie
mein Vater ist ein Marsmann, meine Mutter ein Taifun
und wollen sie mutieren dann werden sie es tun
Ref: Ohh Spraydosenblues…


Graffiti an den Wänden Graffiti an den Säulen
Schriften auf den Stränden und auf den Autobeulen
Graffitivisionen in Stadt und Land
die Sprüche der Mutanten an jeder Wand Spraydosenblues
Oh ich hab den Spraydosenblues
gib mir einer mal nen Kuß
ich den Blues in der Nuß.


Bridge: Ich schleiche an der Mauer und leg mich auf die Lauer
und wenn keiner kommt sprühe ich meinen Spruch
die Farbe hat Dauer und wird nicht sauer
die Farbe hat einen Fremdlingsgeruch.


Oh Spraydosenblues – duaa… oh ich hab’ den SDB – duaaa…
Jeder Bus jeder Fuß – kriegt ‘nen Spraydosengruß
Babedua duaaaah

Ein anderes Lied aus meinem SF- Zyklus, das ich ebenfalls auf Bayern 2 live in Mikro jodelte, ist meine sehr persönliche Fassung von Dylans „You ain’t goin’ nowhere“ (Jetzt geht es ab…).

Jetzt geht es ab        Oigen / Dylan 1980

Der Donner grollt und der Regen tretscht
ich bin müde und fühl mich bedetscht
es hat keinen Sinn noch aufzustehn
wohin sollte ich auch gehn

Ouueee noch eine Nacht
dann kommt meine Braut so wars abgemacht
Ahhh dann geht es los – ab in den Himmel hinein.


Ich habe kein Gesicht und bin ein Fliegengewicht
meine Taschen sind leer doch das stört mich nicht sehr
mein Herz schlägt Reggae wenn es draußen kracht
und ich leuchte wie ein Stern wenn meine Liebste lacht
Ouuee jetzt geht es ab Du und ich in den Himmel hinein
Ah, ich komm in Trapp wir sind nicht allein.

Die Herren der Welt, all die großen Männer
sind in Wahrheit auch nur Penner
die bei Gewitter und Regentagen
müde in der Ecke liegen.
Ouuee jetzt geht es ab Du und ich in den Himmel hinein

Ah, ich komm in Trapp wir sind nicht allein.

Da sind die vielen, die mit mir singen
jeder hat ein Lied und läßt es- erklingen
bring mir ne Flöte und ne Trommel herbei
wir spielen zusammen und singen uns frei.
Ouuee jetzt geht es ab Du und ich in den Himmel hinein
Ah, ich komm in Trapp wir sind nicht allein.


Im Himmel wachsen Dinger wie große Tomaten
die muß man kochen die kann man nicht braten
das sind die Blas en von reiner Luft
die haben einen starken Duft
Ref: Ouuueee jetzt geht es ab…


Im Himmel gibt es Sterne und die leuchten uns gerne
doch eine Geschichte darf man nicht übersehn
auch wir müssen wirklich in Liebe erstrahlen
denn sonst können die uns nicht sehn.
Ref: Ouuuueee jetzt geht es ab …


So regnet es also die ganze Nacht

doch meine Liebste kommt so wars abgemacht
sie fliegt acht Lichtjahre in sechzehn Wochen

und morgen werden wir Duftluft kochen.
Meine Braut hat ein Ufo das sieht aus wie ein Hund
innen ist es weich und außen ist es bunt
drinnen kann ich gerade stehn
und am Bildschirm kann ich die Planeten sehn
Ref: Ouuee, jetzt geht es ab…


Ich bin schon oft mit ihr geflogen
im ganzen Kosmos rumgezogen
doch ein Regen auf der Erde
und ein Donner der grollt
tausch ich nicht für eine Galaxis Gold
Ref: Ouueee, jetzt geht es ab…

Timothy Leary 

Dann kam Tim Leary aus dem Knast. Seine erste Auslandsreise führte ihn nach Deutschland. Es war das erste Mal seit fast zehn Jahren, dass er, den Richard Nixon als einen der gefährlichsten Männer Amerikas bezeichnet hatte, die USA verlassen durfte. Hierzulande besaß er noch eine gewisse Popularität, die den ehrenwerten Fritz Rummler vom SPIEGEL veranlasste, zur Berichterstattung anzureisen.

Wir trafen Tim in seinen weißen Turnschuhen in einem Sport Hotel im Sauerland und er brachte kosmopolitischen Stil in die Body-Mind-Spirit-Scene der Tagung, die von etablierten Psychologen dominiert wurde. Bei den Veranstaltungen schaute Tim kurz rein und ging dann aber schnell, wobei er in Richtung des Referenten meist John Lilly zitierte: „Shoot up oder shut up!”

Im Untergeschoss des Hotels gab es einen Entertainment-Raum und Tim versuchte, uns auf die ersten Videospiele anzuturnen, die es damals gab.
Der unermüdliche PR-Mann Leary hatte seine neuen Slogans S M I2LE sowie HANDS ON im Gepäck, womit er die Entwicklung der Computerindustrie zu einer Cyberwelt[17]visionär beschrieb – was uns Steinzeit-Kiffer jedoch wenig interessierte: Wir wollten lieber Tischfußball spielen. Als sein Kurzzeit-Roadie fuhr ich Leary in meinem roten Bus herum, zum Beispiel zu einem Fernsehauftritt in Köln, und er lud mich ein, ihn zu besuchen.

Im Herbst 1982 flog ich nach New York. Dort war ich Gast von Wingbow, einer Ex-Hogfarm Chinesin, die Deutschland auf dem Rad Richtung Moskau durchstreift hatte, um der Welt den Frieden zu bringen und nebenbei die Harry Belafante Tour bekochte. Wingbow lebte zusammen mit dem Maler Brand Kingman in dem ehemaligen Flat der Ramones, das in einem der Musikhäuser in Nähe der 43. Straße lag. Die Zeitumstellung machte mir sehr zu schaffen und ich lag bis zu sechzehn Stunden am Tag im Bett. Aber durch die Wände hörte ich Musik aus benachbarten Übungsräumen darunter Patty Smith, Harry Belafonte und die Clash.
Sowie ich mich regeneriert hatte, setzte ich mich ins Flugzeug, um Wingbows makrobiotisch-chinesischer Diäthölle zu entfliehen, deren Höhepunkt in den stinkenden Eiern bestand, die Kotzwinkel in seinem Roman Fanman beschrieben hatte.

Ich landete in Denver und machte mich auf den Weg zu Gia Fu Feng, der eine Gruppe junger Deutscher trainierte. Gia Fu bat mich, einige Hühner zu schlachten, wofür seine Jünger offensichtlich schon zu feinstofflich waren.

Für zehn Tage wohnte ich in einer kleinen Blockhütte und trampte dann weiter zur Hopi-Reservation. Großmutter Carolyn Monongye, die mich nach der Frankfurter Buchmesse bei einem Treffen abends in der Brotfabrik eingeladen hatte, kannte ich bereits vom Russel-Tribunal in Rotterdam. Da stand ich nun –vermutlich der tausendste Besucher in diesem Jahr.
Mit den jungen Freunden, die sich um Großmutter Carolyn kümmerten, fuhr ich die endlos lange Strecke zu den Maisfeldern, ein Weg den die HOPI einst täglich rannten. Nachmittag kamen einige der Elders zum Kaffee trinken und um Schwätzchen halten. Die jungen Leute in Hotevilla hielten wenig von den alten traditionalistischen Indianern, die verhinderten, dass es im Dorf Elektrizität gab. Als ich Carolyn einmal auf die Post begleitete, schlug ihr – die kurz zuvor auf der Buchmesse als Ehrengast neben dem Dalai Lama die HOPI-Nation in einer Rede über die Zukunft der Menschheit repräsentierte – Unmut entgegen.

Nach ein paar Tagen trampte ich weiter, via Las Vegas Richtung Los Angeles.
Dort wartete ich im Alta Cienega Hotel darauf, dass Tim Leary vom Thanksgiving-Essen bei seinen Schwiegereltern zurückkommen würde. Ich verbrachte diese Tage meist in Barnies Beanery, einer Kneipe, vor der Charles Bukowski ausdrücklich gewarnt hatte.

Als Tims Gast schlief ich im Zimmer seiner Frau Barbara Chase. Die beiden erschienen mir wie Hollywoodstars. Barbaras Sohn Zacky, erzählte mir von Woody Allen, David Bowie, Brian Ferry und anderen Besuchern. Auf der Anrichte stand eine Schallplatte von John Lennon mit Yoko Onos handschriftlicher Bitte um ein Feedback. Nachvollziehbar, dass schwer beeindruckt war.

Ich blieb ein paar Tage und fuhr dann nach San Francisco Tom Ruddock, einem Kumpel aus Heidelberger Tagen. Ich hätte Shunryu Suzuki besuchen sollen und mein Leben hätte sich vielleicht voll­kommen verändert, aber ich wusste damals noch nichts von dem Meister, der ZEN in den Westen gebracht hatte. Selbst Baker Roshi[18] habe ich erst Jahre später kennengelernt.
Stattdessen hing ich bald wieder bei Tim Leary in Hollywood herum und übersetzte ihm den SPIEGEL-Artikel von Fritz Rummler. Eines Abends gingen aus und besuchten das neu eröffnete Hard Rock Cafe in Beverly Hills. Wir trafen ein nettes Paar, junge Filmemacher. Tim Leary hatte im Sommer zuvor mit seinem ehemaligen Erzfeind, dem Oberbullen Gordon Liddy, eine missverständliche Tour durch amerikanische Universitäten absolviert und die junge Dame hatte alles gefilmt. Der Film wurde in Cannes vorgestellt, war aber meines Wissens ein Flop. Es war ein schöner Abend, aber als wir zurück kamen in die Wonderland Ave., hatten die zwei großen Hunde, die Barbara hielt, auf den weißen Teppich geschissen.
„Oh Timmiiii“, rief Barbara und Tim, der Commodore einer Generation Sternenreisender, holte Schippchen und Schäufelchen und begann zu putzen. Da wurde mir nochmal klar, dass auch Stars mit Wasser kochen und ihre Hunde Haufen scheißen. Solche Erfahrungen erden und holten die Sterne vom Himmel.

Mit Tim Leary in einer Bar

The Commander Oigen 1983

The commander talked to the people
I don’t know if he was right
he talked about the substance
of the evolutionary fight
and he must know, he’s so tight
he said: shoot up or shut up
if you wanna feel allright.

The days up in Star Hotel
Lots of body mind and soul
the commander is at the bar
while we try to hit the goal
and we know how, its so tight
we shoot in or shut up
‚cause we wanna feel allright.

I am a medium of advertisement
he said with a smile
my advertisement means amusement
and you get is once in a while
and I know how, the vision’s tight
so shoot up or shup up
if you wanna feel allright.

A ninetysix year old grandpa
was fucking this young chick
his lady took him to the window
and threw him overhead:
if he can fuck – he can fly
so shoot up or shut up
if you wanna feel al/right.

SMIL2E means Space migration
and intelligence increase
and also life extension
but wh atever SMILE means
You have to SMILE – it’s so tight
so shoot up or shut up
if you wanna feel allright.

So the good old neural system
and the molecular event
of the human body
should be under your command
so hands on – it’s so tight
shoot up or shut up
if you wanna feel allright.

Deutschsprachige Interpretationen

Nachdem meine SF-Epoche abgeklungen war, begann ich Songs in deutscher Sprache zu interpretieren. Das mag nicht in jedem Fall gelungen sein, aber auf Partys kamen die gut an. Hier ein Beispiel:

Mädchen im Norden Oigen 1985
Frei nach Bob Dylan: Girl from North Country

Hey wenn Du oben im Norden trampst,
in den Bergen wo der Wind rauh bläst,
dann denk an mich und eine die da lebt

– ich hab sie einst sehr geliebt.

Wenn Du im Schneesturm auf ein Licht zuhältst,
über gefrorene Flüsse und vereiste Seen,
dann schau mal nach, ob sie noch dort lebt

und ob sie es warm hat, im heulenden Wind.

Und erzähl‘, wie trägt sie jetzt ihr Haar?
Einst war es lang und dicht und braun und stark!
Ja, schau mal nach ob sie es noch lang hat,
das habe ich so sehr gemocht.


Ich würde gern wissen, ob sie mich noch kennt?
Wie oft habe ich an sie gedacht,
wenn der Tag die Wand hochrennt
und in so mancher tristen Nacht.


So – wenn Du oben im Norden trampst,
in den Bergen wo der Wind rauh bläst,
dann denk an mich und eine die da lebt
– ich hab sie einst sehr geliebt.

Und dann ließ sich der Satiriker in mir nicht länger im Zaum halten. Hier ein paar Beispiele:

Unten am Wasser  Oigen 1985,  Frei nach: The Drifters „Unter the Boardwalk“

Wenn die Sonne sinkt und der Schweiß den Rücken rinnt
und die Steine sind heiß und wir warten auf den Wind
unten am Wasser, drüben am See
mit meinem Mädchen auf der Decke
ich wär blöd wenn ich jetzt geh.


Ref: Unten am Wasser, wo die Sonne sinkt
unten am Wasser, wo mein Lied erklingt.
unten am Wasser, wo die Mücken sind
unten am Wasser, warten wir auf den Wind
unten am Wasser – Wasser.


Von der Kirmes her hört man den Krach vom Karussel,
und es stinkt nach Pommes und Bratwurscht und Urquell,
unten am Wasser, drüben am See
mit meinem Mädchen auf der Decke
ei was isses so schee.
Ref: Unten am Wasser…


Oder:
Daheim isses schön… frei nach „Home on the Range“

Ach schenk mir ein Haus, an dem kein Kuckuck klebt
Wo ein munteres Bächlein rauscht,
wo am Sonntag kein Nachbar den Rasen mäht,
und kein Laubbläser die Stille zerreißt.


Ja, daheim, daheim isses schön,
wenn der Bock die Ricke bespringt,
wenn der Bussard kreist und die Lerche singt
und ein Bierchen mir freundlich zuwinkt.


Wie oft in der Nacht, habe ich laut gelacht,
wenn am Himmel die Ufos ziehen,
wenn die Sterne leuchten und die Nachtigall singt,
und der Nachbar sein Essen mitbringt.


Ja, daheim, daheim isses schön,
wenn der Bock die Ricke bespringt,
wo das grüne Gras berauscht und der Dorfbulle spinnt
ja da freu‘ ich mich wie ein Kind.


Hinten im Wald, wo die Büchse knallt,
liegt ein Sixpack im Bach versteckt,
eine Decke im Gras, darauf ein Mädel ganz nass,
ja daheim, da haben wir Spaß.


Ja, daheim, daheim isses schön,
wenn der Bock die Ricke bespringt,
wo der Bussard kreist und die Lerche singt
und das Mädel mir fröhlich zuwinkt.


Oder.
Ich hab genug (Frei nach: I’m Going to Leave Old Texas Now)

Ich hab genug mach‘s gut und chiao,
ich geh‘ zu Fuß, denn ich bin blau.
Zahl du für mich, ich hab nichts mehr,
der Kopp ist voll, die Taschen leer.

Die Nacht ist kalt, der Weg ist weit,
wer geht voran, ich bin so breit.
Ich sage: tschüss, mach‘s gut und chiao,
du bist ne wunderbare Frau.


Ich hab die Kneipe vollgekotzt,
und du hast mich voll angemotzt,
wo ist mein Pferd, mein Hut, mein Colt,
ich hab das alles nicht gewollt.
….ich hab das alles nicht gewollt.

…oh nein, wollt ich nicht.
…machts gut.

30 Jahre Auszeit

Von 1985 bis ca. 2015 nahm ich eine musikalische Auszeit. Stattdessen schrieb ich satirische Golfbücher, was in meinem Bekanntenkreis für noch mehr Irritationen sorgte als meine Idee, von Außerirdischen gekidnappt worden zu sein. Ich besaß stets eine Gitarre, aber ich spielte kaum noch, höchstens mal auf einer Gartenparty, aber auch das wurde immer seltener.

2017 passierte Folgendes: Ich sah den Film Inside Llewyn Davis von den COEN-Brothers. Durch das PR-Konzert Another Day, Another Time, das anlässlich der Veröffentlichung des Films Inside Llewyn Davis unter der musikalischen Leitung von T-Bone Burnett aufgezeichnet wurde, erfuhr ich von dem weltweiten Revival der Folk-Musik mit alten und neuen Künstlern und neuen und alten Songs.
Mir bis dato vollkommen unbekannte Namen wie Markus Mumford, die Milk Carton Kids, Chris Thile und die Punch Brothers, Rhiannon Giddens, Gillian Welch und Dave Rawlings verzauberten mich. Über deren Musik entdeckte ich wiederum andere geniale Singer/Songwriter wie Towns van Zandt, Guy Clark, John Prine und Blaze Foley, die mich derart faszinierten, dass ich wieder zur Gitarre griff und versuche, deren Lieder zu spielen.

Nachdem mir die VG Wort ein paar Tantiemen überwies, kaufte ich mir eine richtig gute Gitarre, eine Larrivée L09, die mir mit ihrem außerordentlichen Klang wirklich Freude bereitete. Aber dann merkte ich, dass ich den flachen modernen Gitarrenhals nicht mehr ohne Schmerzen greifen konnte. Diagnose: Beidseitige Daumensattelgelenksarthrose.
Ich begann mich näher mit Gitarren und ihren Halsformen zu befassen. Eine 40 Jahre alte ARIA Parlor-Gitarre verursachte keine Schmerzen. Ich entdeckte, dass mir die alten (dicken) D- und V-Hals-Formen besser lagen und begann, Kleinzeigen und Gitarrenbörsen nach alten Gitarren zu durchforsten. Nach und nach kaufte ich etliche alte Gitarren die ich (mit fachmännischer Unterstützung des Musikhauses Schönau in Gießen) pflegte und zurecht machte, um sie dann wieder in die Freiheit des Kleinanzeigenmarktes zu entlassen.

Bei Open Stage-Veranstaltungen spielte ich eine vollmundige Hohner Leyanda mit Lackschaden aus den 1980er Jahren (Kaufpreis: EUR 65.-), die es mit mancher Martin aufnehmen konnte und dann die und die und die, siehe…
Ich hoffe, noch mal irgendwo auf der Straße zu spielen, entweder ein paar meiner alten selbstgebastelten Liedern oder die Songs von Towns van Zandt, Guy Clark, Blaze Foley und anderen Alternativ Country-Poeten, die ich in den letzten Jahren kennenlernte.

Ob es mir wirklich Spaß machen wird, auf die alte Art und ohne Technik in lauten Innenstädten Folk-Songs zu spielen, während moderne Straßensänger mit optimalem Soundequipment performen, werde ich sehen. Aber vielleicht sehen wir uns dann …back on the road!

Oigen 2022
Fussnoten

[1] Das ursprüngliche Layout hatte ich aus allem zusammengebastelt, was gerade an Fotos und Bildern herumlag. Im vorliegenden Format konnte ich nur ein paar Seiten im Original abbilden, die keine Bild-Copyrights verletzen.

[2] Wolfgang Klose erzählte mir (2021) wie er und zwei Freunden sich als Erste in dem uralten Hofgut eingemietet hätten, ca. 30 Freaks sollten folgen, bis sich diese Szene irgendwann auflöste. Die Elstern zogen gen Süden, andere gingen nach Berlin.

[3] Siehe auch https://www.welt.de/kultur/kino/plus165841150/Unterdruecktes-Meisterwerk-wird-endlich-rehabilitiert.html

[4] Gerriet Hellwig wurde ein sehr innovativer Modemacher in Düsseldorf und später Farbforscher und mit Wau Holland einer der Ideengeber beim Chaos Computer Club. Gerriet machte wirklich verrückte Klamotten und ich fuhr durchs Land und verkaufte sie. Eine Zeitlang lief es sehr gut. In meinem Bus hatte ich meine Gitarre und egal, wo ich in Deutschland hinkam: es gab immer eine Gruppe oder Familie, die einen warmen Platz und eine Mahlzeit für den Barden hatte. Gute alte, irische Tradition: lange Nächte mit Geschichten, die wir uns erzählten, denn die meisten von uns hatten damals ihren Fernseher aus dem Fenster geworfen oder hatten gar keinen, wegen der Kinder. 

[5] Transmittercassetten, Lied 1984, Werner Pieper 6941 Löhrbach

[6] Reimar Lenz: https://www.wikiwand.com/de/Reimar_Lenz_(Publizist)

[7] Siehe auch: Ulli Freise, Das Waldeck Konzil

[8] Aus der Region Weinheim-Heidelberg stammt ein riesiger Pool kreativer Musikern, deren Vielfalt hoffentlich irgendwann in einem entsprechenden Werk gewürdigt wird.

[9] Eines Tages erkannte ein Geschäftsmann, der mich in einer Einkaufsstraße hörte, dass ich der geborene Verkäufer war. Er bot mir einen Job an und so wurde ich dann Vertreter und nachdem ich das Lügen perfekt beherrschte, ging ich später ins Marketing.[9]

[10] Hin und wieder wies ich die Leute darauf hin, dass es Zeit sei einkaufen zu gehen und bat sie dann, mir mein damaliges Lieblingsbier mitzubringen. Das klappte häufig.

[11] Europäisches Medizinrad-Treffen 16. September bis 1 Oktober 1983. Siehe Gugenberger/Schweidlenka, Mutter Erde, Magie und Politik. Zwischen Faschismus und neuer Gesellschaft. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1987

[12] Bezieht sich auf das Lied vom Kräutelein von Ulli Freise, Zeitenwende.

[13] Laufi ist der vermutlich einzige DJ in Deutschlands, der nur in den Clubs nur Musik von Kassetten abspielt, die er aus seiner Sammlung von ca. 4000 Tapes auswählt.

[14] Auszug aus OIGEN: Zwischen Sternenstaub und Hühnerdreck

[15] Phillip Deere, einst der ‚Medizinmann‘ des American Indian Movement (AIM) bei deren Auseinandersetzung am Wounded Knee, war nach Deutschland gereist, weil man ihm ein neues Gebiss versprochen hatte – ein Versprechen, das der weiße Mann auch diesmal brach.

[16] Raymond Martin: Verleger und Herausgeber der U-Comix und der Zeitschriften Päng, später Liebe.

[17] Dass diese Cyberwelt durch einst von Leary angeturnte Protagonisten (u. A. Steve Jobs) immer mehr zur ‚schönen neuen Welt‘ nach Aldous Huxley verkommt, hätte sich selbst der Visionär Leary nicht träumen lassen.

[18] Richard Baker Roshi: Amerikanischer ZEN-Meister und Dharma-Nachfolger von Shunryu Suzuki.

Den FALK im Nacken

Erinnerungen von Eugen Pletsch

In querFALK, Herausgegeben von Caroline Hartge und Ralf Zühlke (Verlag Peter Engstler) hatte ich vor Jahren einen Beitrag mit dem Titel „Den Falk im Nacken“ veröffentlicht, der 2020 auch in Mein Falk-Projekt zu finden ist. Dieser biografische Text handelt von meiner Odyssee durch die Subkultur der Jahre 1960 bis 1990 und zum Ende hin von meiner Begegnung mit Helmut Salzinger und der Gruppe 60/90…


Jeder, der dabei war weiß, was der evolutionäre Treibsatz unserer Generation war. Heller als tausend Sonnen[1] strahlten wir, die wir damals alle – fast – erleuchtet waren. Von Mathias Bröckers fand ich in Humus auf Seite 12 eine Textpassage, die meine Perspektive stützte. Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang: die ‚hedonistische linke Internationale‘, die Helmut Salzinger propagierte, was ihn – laut Bröckers – ‚von den 68er Theoretikern eigentlich zum interessantesten und spannendsten‘ machte.

Geraume Zeit dachte ich darüber nach, was mein Beitrag zu diesem Buch sein könnte. Ich umkreiste das mir abstrakte Thema wie ein Falke, der am Boden im Kreis humpelt und nicht hochkommt, weil er sich mit einer Kralle in dem schweren, patschnassen Pullover seiner Erinnerungen verhakelt hat. Der Begriff ‚hedonistische linke Internationale‘ hat mir weitergeholfen, obwohl ich damals – weiß Gott – kein Theoretiker war. Eher eines dieser Kinder, die, fasziniert von den Männern mit den langen Haaren und Bärten, im BDS (Bund demokratischer Schüler) aktiv waren, der damaligen Jungschar des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Mit glühenden Worten vertrat ich die Phrasen anderer Leute, die sie vermutlich selbst nicht verstanden.

Irgendwann jedoch, nachdem der dritte Joint in mir implodierte, stand ich auf der Kippe, und als ich dann meinen ersten Weltraumflug (Purple Haze) absolvierte, galt ich bei den Gießener Genossen endgültig als arme, entpolitisierte Kreatur.

Der Schüler wurde zum Hippie und irgendwann zum ko(s)mischen Reisenden. Die Zeit, in der ich als fahrender Sänger unterwegs war, beschrieb ich in meinem autobiographischen Liederbuch Zwischen Sternenstaub und Hühnerdreck. Ich war dreißig Jahre ‚on the road‘, als Tramp, als Hippie, als Liedermacher, später als Handlungsreisender und dann, als ich mein Yoga, meinen ‚Do‘ oder ‚Weg‘ fand – als Golfer.

Heute reise ich kaum noch. Ich habe mich verwurzelt, eingegraben und mag nicht mehr abheben, geschweige denn zu den Sternen fliegen. Ich arbeite, koche, schreibe, male, gehe spazieren, spiele Golf, rede mit meinen Kindern, führe ein ruhiges Leben und habe langsam das Gefühl, dass das überdrehte Rad meines Lebens, dieser hektische Brummkreisel meines Seins, langsam in mir zur Ruhe kommt. Aber ich schaue gerne denen zu, die sich zu den Sternen aufmachen, die ihren Geistscheinwerfer zum Himmel richten, die den Kosmos ihres Lebens voller Leidenschaft erobern wollen, freie Falken ohne Horizont. Und wenn mir jemand etwas von der Weite des Himmels erzählt, während er wild mit den Flügeln schlagend am Boden festhängt und im Kreis rudert, dann muss ich grinsen und an mich damals denken.

Ich (Jahrgang 1952) wuchs im Wirtschaftswunderdeutschland in Mittelhessen auf. Vor meinem inneren Auge sehe ich noch die Ruinen, in denen wir herumgeklettert sind. Ich verstand damals nicht, was die schwarzen Zähne zwischen den wiederaufgebauten Häuserreihen bedeuteten. Der noch allgegenwärtige Krieg war mir ein abstraktes Wort, während Helmut und MO diese Zeit bewusst erlebt hatten. Besonders MO, die gerne von der freien Nachkriegszeit, dieser herrlichen, kurzen Epoche des Matriarchats schwärmte, um dann über die Dummheit der Frauen zu schimpfen, die sich von den Kriegsheimkehrern wieder in den häuslichen Käfig hatten zurücktreiben lassen.

Meine Familie war bürgerlich. Mein Opa war Handwerker, mein Vater wäre gerne Lehrer geworden, aber er fügte sich und wurde mit der Übernahme des großväterlichen Betriebes mittelständischer Unternehmer. Er fand darin kein Glück, aber wir Kinder hatten ein gutes, warmes Heim.

Das Haus, in dem wir zur Miete wohnten, gehörte einer Familie Leidel. Dr. Hans Joachim Leidel, Arzt, Schriftsteller, Pazifist und Sonderling, war ein maßgeblicher Einfluss meiner Kindheit. Er war umgeben von geheimnisvollen Geschichten und er lehrte mich Dinge, die mein Vater nicht zu formulieren gewusst hätte. Der trug Verantwortung für mehr als fünfzig Arbeiter und Angestellte und nachts, wenn Dr. Leidel beim Rotwein Gedichte vorlas, saß mein Vater still in einer Ecke und schwor sich, seinem Jungen das zu lassen, was ihm sein Vater verwehrt hatte: die Freiheit des Geistes. Den Blick vom Himmel. Den Flug des Falken durch die Welt der Phantasie.

Täglich besuchte ich Dr. Leidel, wenn er im Garten buddelte, alte römische Scherben zusammenklebte oder seltsame Geschichten schrieb. Er inspirierte mich zu zeichnen und erzählte mir aus seiner Zeit als Lagerarzt im Krieg. Er zeigte mir Bilder; Berge toter Juden, und er versuchte, mir Ansätze kritischen Denkens zu vermitteln. Leidel war ein unbequemer Mensch, der in diesem Archipel einer hässlichen Universitätsstadt voller Kleingeister und Intrigen in der Verbannung lebte.

Der Keller, die Garage, der Speicher, das ganze Haus war gefüllt mit Tausenden von Büchern. Uralte Bücher, zum Teil noch mit Schweinslederrücken, die vermoderten. Im Keller und Hausflur allgegenwärtig Stapel medizinischer Zeitschriften. In Leidels Arbeitszimmer waren alle Wände bis zur Decke voll mit Büchern. Alle Bücher dieser Welt, wie mir damals als Kind schien.

Im Frühling kamen die Klopftage. Dann staubte er auf der Veranda alle Bücher ab, indem er jeweils zwei Schwarten zusammenschlug, was im ganzen Haus als Klopfen zu hören war. Danach blies er den Staub ab und stellte die Bücher zurück. Das machte er tagelang.

Als ich dreizehn Jahre alt war, gab er mir Lobsang Rampas damaligen Bestseller Das dritte Auge zum Lesen. Diese Einführung in die geheimnisvolle Welt des tibetischen Lamaismus fesselte mich augenblicklich. Es war mein erster Kontakt mit dem Buddhismus. Dr. Leidel starb früh, nachdem er seinen Todeszeitpunkt exakt vorausgesagt hatte. Ich trauerte leise für mich und wartete auf ein Zeichen des Himmels.

Das kam, als ich erstmals Bob Dylan hörte, was mein Lebensgefühl schlagartig veränderte. Natürlich lernte auch ich Gitarre spielen und Dr. Leidels Sohn nahm mich mit zum Ostermarsch nach Frankfurt, wo Joan Baez spielte.

Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich im Schaufenster der Ricker’schen Buchhandlung in Gießen, die von Leidels Freund und späterem Verleger Gideon Schüler betrieben wurde, das Buch Gammler, Zen und hohe Berge von Jack Kerouac entdeckte, erschienen in einer Taschenbuchausgabe bei Rowohlt. Wie bei Dylans Liedern verstand ich eigentlich kein Wort vom Inhalt, aber ich verstand die Botschaft. Es war aufregend, lebendig anders und eine Übertragung des Geistes, den jene Adepten meiner Generation erhielten, die dafür offen waren. Und ich hatte Glück, denn das Buch schickte mich auf einen guten Trip. Ich begann mich für Schlafsäcke, Berge, Natur, Zen und Mädchen zu interessieren. Mein Held war der Dichter Gary Snyder, der als Japhy Ryder in diesem Buch eine Hauptrolle spielte.

Jack Kerouacs Tristessa oder W.S. Burroughs Naked Lunch zum Einstieg, und ich wäre vermutlich in die melancholische Welt der Junkies abgetaucht und nie mehr über Wasser gekommen. Natürlich versuchte auch ich irgendwann wie Old Bull Lee dazuliegen, die Figur in Kerouacs On the Road, die von Burroughs inspiriert war, um tagelang auf meine Fußspitzen zu starren. Ich schaffte das aber nur fünf Minuten, dann sprang ich auf und raste wieder los, rastlos und verrückt, und das rettete mir das Leben.

Natürlich las ich auch Jack London und wurde Tramp. Mein Glück war der Straßenrand. Blues singen und mit der Mundharmonika Autos heranlocken. Unter ‚Gammlern‘ und ‚Hippies‘ an der Straße kapierte ich schnell, warum manche Hitchhiker tagelang an einer Auffahrt in Südfrankreich herumhängen mussten und nicht weiter kamen, während andere, wie ich, sofort mitgenommen wurden. Beim Trampen muss man clean rüberkommen und Interesse wecken – dem Fahrer einen Grund geben, um anzuhalten. Und dann, wenn man im Wagen saß, musste man etwas zu erzählen haben, damit der Fahrer wach blieb. Für eine gute Geschichte gab es Einladungen zum Essen, Übernachtungen, lange Lifts und manchmal auch die Bereitschaft, einen Umweg zu fahren. Ich trampte durch Westeuropa. Meine schnellste Reise war: 1. Tag Amsterdam, 2. Tag Brüssel, 3. Tag Paris, 4. Tag Marseille, 5. Tag Cassis (ein Tag Urlaub am Strand), 6. Tag Grenoble. Jeden Tag schickte ich eine Postkarte an meine Eltern. Als ich am 7. Tag zu Hause einlief, war noch keine Karte angekommen. Ich war ziemlich schnell, weil ich überlegte, wann und wo ein Autofahrer halten konnte und das Trampen war für mich reine Lust. Ich wollte nur unterwegs sein. Manchmal, samstags, trampte ich von Gießen nach Frankfurt und zurück. Ich ging nicht in die Stadt, ich wollte nirgendswo hin – nur unterwegs sein. Bewegung in einer starren Welt, die sich mit der Studentenbewegung rapide zu verändern begann.

Ich suchte Gott, die Wahrheit, eine Antwort und kam zu Frater Marianus, damals der letzte Einsiedler der Alpen, wo ich als erster Gast seit dreihundert Jahren in der Klause wohnen durfte, um die‚Väter der Wüste‘ zu studieren. Ich trampte zu Oskar Kiss Maerth, der gerade mit seinem Buch Der Anfang war das Ende[2] Aufsehen erregt hatte, um von diesem alten Business-Yogi, der in einem Schloss am Comer See lebte, etwas über den Ursprung der Menschheit zu erfahren. Ich lief endlos durch den Tessin, bis ich die Casa Montagnola fand, wo Hermann Hesse Klingsors letzter Sommer geschrieben hatte. In der Schweiz fragte ich den damaligen Sekretär der theosophischen Gesellschaft Paul Häusle, was er von LSD halte. ‚Kunstdünger‘, meinte der alte Mann. Ich schrieb später ein Lied, Kunstdüngergeneration

Beim Steppenwolf-Konzert in Frankfurt lernte ich Werner Pieper kennen, den ich die nächsten Jahre bei seinen Projekten, den Grünen Zweigen sowie den Magazinen Kompost und Humus begleitete. Mit den harten Drogen war die Release-Bewegung entstanden, eine Selbsthilfeorganisation von Drogenabhängigen; auch sie hatte ihren radikalpolitischen (Patientenkollektiv) und ihren hedonistischen Arm (Grüne Kraft). Pieper lebte eine Zeitlang im legendären Release in Highdelberg. Helmut war in Hamburg Release-ambitioniert und ich war Gründungmitglied der Gießener Teestube, einer Drogenberatungsstelle, die in ihrer ersten psychedelischen Epoche durch die künstlerische Arbeit von Bernward Spiegelburg das schönste öffentliche Setting östlich von Amsterdam hatte.

Häufige Gäste, besonders in der kalten Zeit: die Gründerväter der Gruppe Elster Silberflug Uli Freise, Diethard Hess und Hartmut Hoffmann. Mit Bernward Spiegelburg, Thomas Ziebarth und dem früh verstorbenen Peter Markl (vom dem 2005 posthum eine CD erschien) waren sie die Ur-Elstern, die in einem abgelegenen Hofgut diese wundersam mystische und damals zugleich hochmoderne Musik schufen, die diese Gruppe später bundesweit bekannt werden ließ.

Auf dem Weg nach Indien blieben die Elstern in Heidelberg hängen. Barby Grosse und Lutz Berger schlossen sich der Gruppe an und der Rest wurde Musikgeschichte. Deutschfolk nannte man das damals. Die Elstern waren eine große Familie befreundeter, junger Musiker und Vaganten und manchmal standen ein Dutzend von ihnen auf der Bühne. Nach einer langen psychedelischen Nacht fragte mich Diethard Hess, ob ich Lust hätte, mit Thomas Ziebarth unter dem Namen Krauts Zupforchester eine Deutschlandtour mitzumachen, während der Rest der Truppe als Elster Silberflug Konzerte in England wahrnehmen wollte. Ich willigte ein.

Wir zogen auf eine einsame Lichtung im Wald, wo wir etwa eine Woche unter freiem Himmel an einem Feuer kampierten. Wir spielten Tag und Nacht, angeheizt aus dem Treibstofftank des Universums und den gütigen Gaben eines Shiva-Sadhus, der uns als psychedelischer Zeremonienmeister begleitete. Ich habe keine Erinnerung mehr daran, wann wir je gegessen hätten. Aber in dieser Woche lernte ich mehr als dreißig Lieder aus fünf Jahrhunderten: Vagantenlieder, Moritaten, deutsche Mystik, selbstkomponierte Tänze und Folksongs.

Dann gingen wir auf Deutschlandtour, wurden bei unserem ersten Auftritt im Nörgelbuff in Göttingen um die Gage gelinkt und spielten dann in Clausthal-Zellerfeld vor ca. achthundert Bergbaustudenten im Audimax. In Stuttgart, nach einem Konzert, traf ich meine spätere Frau Anita in einem Park und irgendwann, zum Abschluss unserer Reise, standen wir auf einer Bühne vor dem Bonner Rathaus bei irgendeinem Sommerfest vor Tausenden von Menschen und spielten Drei Chinesen mit dem Kontrabass, was zu unseren Instrumenten passte: Thomas spielte die Bouzouki, Diethard Hess seinen einzigartigen mexikanischen 6-Saiten-Bass und ich die Gitarre.

Irgendwann kamen die anderen Elstern aus England zurück. Plötzlich waren wir zu viele auf der Bühne. Ich hatte, wie ich damals meinte, genug gelernt und tingelte für mich durch die Einkaufsstraßen. Die Elstern nahmen bei Hansa in Berlin (‚at the wall‘, wo David Bowie sein Album Heroes produzierte) ihre erste Platte auf.

Irgendwann anlässlich des fünfzigsten Grünen Zweiges veranstaltete Pieper ein großes Fest, zu dem viele namhafte Musiker dieser Zeit unplugged spielten. Das Konzert wurde als besagte Musik aus dem Odenwald[3] auf Schallplatte veröffentlicht; heute ein teures, in England gesuchtes Sammlerexemplar.

Tom Klatt rief zum Festival of Fools nach Recklinghausen, Top Act war Django Edwards. Pieper und ich organisierten als Flying Assholes die Rocker Security. Ich fuhr mit Pieper auch nach Bern, wo wir Sergius Golowin, Walter Wegmüller und den Zigeunergeiger Baaschi trafen. (Jahre später in Basel nahm ich an einem Workshop mit John und Tony Lilly teil, fuhr danach nach Luzern, stieg auf einen Berg und stürzte ab.)

In Gießen traf ich jenes Mädchen aus Stuttgart wieder, schwängerte sie und wir fuhren zusammen nach Indien, wo ich als Sadhu leben wollte. Es wurde eine existenzielle Erfahrung, bei der mir klar wurde, dass Sadhu werden und gleichzeitig ein Kind bekommen nicht das optimale Timing war. Wir wurden beide sehr krank, ich hatte meinen ersten Nervenzusammenbruch in einem indischen Zug und Deutschland schien uns in unseren Träumen wie das gelobte Land. Irgendwie schafften wir es zurück, wurden von unseren Familien freundlich aufgenommen, heirateten, wie sich das damals gehörte und im Sommer 1974, ich war gerade zweiundzwanzig Jahre alt, wurde mein Sohn Ludwig Brimbadil geboren. Werner Pieper wurde Patenonkel.

Vor ,Indien‘ hatte ich ein paar Semester Pädagogik studiert. Jetzt, nur mit mystischen Flausen im Kopf, sollte ich eine Familie ernähren. Drei Monate Probezeit schaffte ich bei meinem ersten Job als Erzieher in einer jugendpsychiatrischen Anstalt. Ich las Summerhill von Alexander Neill und wurde gefeuert. Wir zogen in ein verlassenes Haus in einem hessischen Dorf, begannen einen großen Garten zu bewirtschaften. Pieper hatte ein Zimmer bei uns, wo er aber nur selten war. Ich lebte in einer phantastischen Welt, in der Buddha bei der Müllabfuhr arbeitete, Krishna im Edeka Milch verkaufte und Castaneda an der Bushaltestelle gegenüber unserem Haus saß und einen Schatten über seiner rechten Schulter beobachtete, der immer länger wurde: den Bus.

H.P. Blavatsky drehte Gurdjieff eine Zigarette, was meiner Frau nicht passte. Rudolf Steiner werkelte in der Küche und suchte Vollkornmehl für eine Brennnessel-Pizza, während Tim Leary mit dem Schäufelchen einen Haufen Nagual-Kotze vom Teppich kratzte.

Ich hatte heftige indische, buddhistische, indianische, taoistische und natürlich Zen-Schübe. Ich las Han Shan, besang den Mond, versuchte meinem sechs Monate alten Sohn beizubringen, die 10 Ochsenbilder in Tusche zu malen und brabbelte den ganzen Tag wirres Zeug, über die innere Mitte, das Wesen der Stille und Avalokiteshvara auf dem Fahrrad.

Manchmal wechselte ich meine spirituelle Gedankenwelt derart schnell, dass meine Frau kaum noch nachkam und nur an der Farbe meiner Klamotten erkennen konnte, wie ich drauf war. Sollte sie heute indisch vegetarisch kochen oder musste wieder ein Büffel erlegt werden?

Traditionelle Indianer, die nach Europa kamen, empfahlen uns, „unsere weisen Männer und Frauen“ zu suchen. So lauschten wir den alten Forstmeistern, Anthroposophen und jugendbewegten Altvorderen. Die politische Linke tabuisierte grundsätzlich Gespräche mit alten Männern, wenn sie im Dritten Reich irgendeine Rolle außerhalb des Widerstandes gespielt haben könnten. Mein Interview mit Professor Wirth, der sich mit Urgemeinschaftsforschung befasste, führte dazu, dass Piepers Bücher und Hefte von der Mehrzahl linker deutscher Buchläden boykottiert wurden. Aber Salzinger las weiter den ‚Kompost‘, die mittlerweile auflagenstärkste Alternativzeitung im deutschsprachigen Europa.  (…)
Als Pieper Deutschland zu Fuß von Nord nach Süd durchwanderte, war ich für eine Ausgabe des Kompost zuständig, Nr. 25, die Rotkohl-Ausgabe; so genannt, weil Anita das Coverbild, die Trilogie der Welt, vom Querschnitt eines Rotkohls abzeichnete. Ich lernte von Pieper, wie man Schnipsel, Bildchen und Artikel auf große Pappen klebte, die dann gedruckt wurden. Überall, wo im Layout Lücken waren, dichtete ich sie zu. Dichtung ist für mich heute noch ein Synonym für ‚weiße Löcher füllen‘.

Es war die Zeit der Landkommunen. Hadayatullah Hübsch hatte seinen Heidi Loves You Shop in Frankfurt schon wieder geschlossen, Päng-Herausgeber Raymond Martin, egomanisches Enfant terrible der Szene, residierte mit seinen Kommunarden auf der Titelseite des Spiegel. Ronald Steckel hatte in Berlin die fünfte Nummer der Love herausgebracht. Es gab Che Urselmanns Verlag und Zero – Zeitschrift für ganzheitliches Lesen im Zero Verlag, Jünemanns Middle Earth in Frankfurt und Josef ‚Bibi‘ Wintjes’ Ulcus Molle Reader in Bottrop.

Rolf Brück, der später zum Maro-Verlag ging, und Bernd Brummbär, Herausgeber der Head Comix von Robert Crumb, waren sporadische Frankfurter Kontakte.

Auf meinen Wanderungen im Vogelsberg entdeckte ich am Waldrand einen achteckigen Turm, den der An­thro­posoph Kurt Theodor Willmann in den dreißiger Jahren eigenhändig aus dem Vogelsberger Basalt geschlagen hatte. Dieser ‚Frankenschlag‘ wurde für die nächsten Jahre unsere Heimat. Hier lebten wir, ohne fließendes Wasser und ohne Strom, als Totalaussteiger, etwa zwei Kilometer vom nächsten Ort entfernt, auf einem Hügel am Wald. Ich wollte Henry David Thoreaus Idee von Walden oder Leben in den Wäldern in der Familie nacherleben, wobei Otto Mühls AAO (Aktionsanalytische Organisation) damals schon ihre Schatten über Europa warf und wir ‚Kleinfamilienwichtel‘ uns ängstlich und verschämt hinter Felsen versteckten. Wir hatten ein großes Stück Land, das wir zum Teil urbar machten. Das Heu der Wiese überließen wir den Nachbarkommunen, die uns dafür Käse und Brot gaben. Mit dem Maler Karl Möller gründete ich die Vogelsberger Kunstgenossenschaft, eigentlich eine Einkaufsgemeinschaft, über die unsere Familien Biogetreide bestellten. Der Altenfelder Hof buk jahrelang das berühmte Brot, das nach Frankfurt in Daniel Cohn-Bendits Distel-Bioladen geliefert wurde. Statussymbol dieser Zeit waren Tennessee Wiggler, fette Regenwürmer, die man Gästen stolz vor die Nase hielt, denn der erste Gang mit Besuchern führte grundsätzlich zum Komposthaufen. FALK-Veteran Helmut Höge hat diese Zeit unter seinem Autorenpseudonym Agentur Standard Text in seinem Buch Vogelsberg[4] beschrieben.

Meine Tochter Greta Li Gotami wurde mit der aufgehenden Julisonne im ‚Frankenschlag‘ geboren. Die Hebamme schaffte es gerade noch im letzten Moment zu uns auf den Berg, und ich vergrub die Nachgeburt im Komposthaufen, auf dem im nächsten Jahr besonders gutes Marihuana wuchs.

Von dort aus brach ich als ‚Oigen, Sänger vom Frankenschlag‘ zu meinen Raubzügen auf. Ich hatte mittlerweile ein eigenes Programm: Lieder von den Elstern, Folksongs von Dylan und Donovan und immer mehr eigene Lieder. Ich konnte vor alten Damen herrlich Dat du min Leevsten büst schmachten, hatte kein schönes, aber ein lautes Organ und verdiente bis zu hundert Mark die Stunde, wenn ich an brüllendheißen Sommerabenden an der Hauptwache in Frankfurt oder an einem bitterkalten Wintertag auf dem Nikolausmarkt in Stuttgart meine Lieder sang. Ich stand mit meiner Gitarre an der Hauptwache auf der B-Ebene und sang, dass die Sonne durch die Betondecke schien. Die Nachtausgabe der Abendpost vermerkte damals in der Lokalrubrik: ‚Er ist wieder da!‘ Nach drei Stunden war meine Stimme fertig. Sozusagen aus stimmökonomischen Gründen wurden meine Ansagen immer länger. Die Menschentraube um meinen Gitarrenkoffer wollte Geschichten hören und dafür gaben sie Geld, das wir dringend brauchen konnten. Wir lebten damals zu viert von kaum vierhundert Mark im Monat.

Die psychedelische Revolution war der Nährboden der Landkommunenbewegung und diese, eng verzahnt mit der Antiatomkraftbewegung, bildete das Rückgrat dessen, was sich ursprünglich unter dem grünen Banner sammelte. Kritische Anthroposophen, der Achberger Kreis, Robert Jungk, Josef Beuys, den ich in Kassel und Gießen erlebte, Philosophen, Künstler und weitsichtige Geister fanden sich zusammen, um sich über eine politische Gegenbewegung Gedanken zu machen. Tausende von jungen Menschen hatten auf ihren inneren Reisen erfahren, dass das Leben auf diesem Planeten ein einziges, vernetztes, sensibles Gebilde ist. Die Botschaft hieß: Gaia, das planetare Mutterschiff, retten. Und jeder machte sich auf seine Weise auf den Weg.

In Deutschland wurde das schön organisiert. Am 6. März 1983, nachdem klar war, dass es DIE GRÜNEN als Partei in den Bundestag geschafft hatten, standen wir noch begeistert auf der Bühne: Zeitenwende, Bernies Autobahn Band, Konstantin Wecker und viele andere Musiker, die die ‚Grüne Raupe‘ begleitet hatten, sangen The Times They Are A-Changing.

Mittlerweile lebte ich wieder bei Gießen, wo meine Kinder so eine Art Bullerbü-Kindheit hatten. Fast zwanzig Kinder auf einem großen Gutshof. Familien, jede für sich autark, ohne ideologischen Ballast, ohne gemeinsame Ökonomie, und das abendliche Zusammensein wurde allein von der Sympathie bestimmt. Es war nicht das erträumte Ökodorf, aber es war für Jahre real die beste Art, wie wir als Familie leben konnten.

Ich bemühte mich damals, als Mitglied des Naturschutzbundes und der Deutschen Ameisenschutzwarte, möglichst viele Gehölze anzupflanzen und wo immer ich hinkam, versuchte ich ein Loch zu graben, um einen Teich anzulegen. Ich nahm meine Aufgaben als Öko-Guerilla ernst, verfasste depressive Gedichte und erfand dabei den ungeregelten ‚Vogelsberger Kniddelhaiku‘:

                 Gras, Gras, entlang der Straß’

                 nach Watzenborn-Steinberg.

                 Unterm Mäher vergehst, an der Straße verwest’,

                 dein Leben ist kurz und allen ist’s schnurz.

Wir brauchten dringend Geld. Ein Unternehmer mit einer Firma für Spiel- und Lehrmaterial, der mich bei einem Auftritt auf der Straße erlebt hatte, bot mir einen Job an. Er hielt mich für den geborenen Verkäufer, denn wer so schlecht singt und Gitarre spielt und dabei so gut absahnt, der muss verkaufen können, meinte er. Er hatte Recht. Nach drei Monaten war ich sein bester Verkäufer und plötzlich verdiente ich wie ein Bundesligaprofi. Ich wurde nervös wie ein Rennpferd, hatte zwar noch die Gitarre im Auto, aber da ich morgens in irgendeiner Stadt beim Kunden sein musste, blieb keine Zeit mehr für lange Nächte mit schönen Geschichten. Nach einem Jahr stieg ich wieder aus.

Ich hatte genug verdient, um unser Projekt ‚Stoff aus Naturfasern‘ anzuschieben. Der Stoffversand war Anitas Idee. Schon im Vogelsberg hatte sie begonnen, die deutsche Öko-Szene aus den Restbeständen alter Webereien mit Naturstoffen zu bedienen. ‚Stoff aus Naturfasern‘ ist heute einer der ältesten Ökobetriebe Deutschlands, auch wenn es keine Öko-Szene mehr gibt. Unter dem Namen Anita Pavani Stoffe ist die Firma mittlerweile weltweit ein Geheimtipp unter Gewandmeistern, die Oper, Bühne und Filmproduktionen wie Harry Potter mit seltenen, magischen Stoffen ausstatten. – 1980 erschien Turtle Island von Gary Snyder auf Deutsch.[5] Darin fand ich das Gedicht Auf den San Gabriel Bergrücken (Seite 52. Es beginnt: ‚Ich träume von – / weichen, weißen, waschbaren Arbeitskleidern …‘). Ich las das Gedicht gerade im Büro, als es klingelte und der Lieferant einige Ballen eines herrlichen, weichen, weißen Baumwollstoffes brachte. Ich rief Frank Schickler an und sagte, Snyders Traumstoff wäre gekommen. Er gab mir dessen Adresse, wir schickten ihm Stoff und der Held meiner Jugend Japhy Ryder nähte sich davon Overalls. Wir schrieben uns noch ein paar Mal.

Die subkulturelle Szene im Deutschland der siebziger Jahre war wie eine große (verstrittene) Familie, wie ein Clan. Durch meine Zusammenarbeit mit Werner Pieper, meine Mitarbeit beim Kompost, aber auch durch meine Reisen als ‚fahrender Sänger‘ entstanden viele Kontakte zu Kommunen, Familien und Gruppen.

Die Landkommune-Bewegung war damals eng vernetzt mit den Betreibern des ökologischen Landbaus, den die Anthroposophen (die als etwas vertrocknet galten) dominierten. Die ersten Ökoläden entstanden, bundesweit bildeten sich Einkaufsgenossenschaften durch Leute, die zu der Erkenntnis gelangt waren, dass eine gesunde Landwirtschaft und eine verbesserte Ernährung mit wahrhaftigen Lebensmitteln eine entscheidende Grundlage zur Gesundung des Menschen und der Erde darstellt. Diese Leute wurden dann später als sogenannte Körnerfresser denunziert und heute haben wir den Salat: massenhaft ‚Volkskrankheiten‘, Überernährung, Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Die Menschen haben die Eigenverantwortung abgegeben und es wurde ein Riesengeschäft. Jetzt sind alle krank und pleite.

Die große, jährliche Erweckungsparty der Alternativszene war zu dieser Zeit das legendäre Pfingsttreffen, veranstaltet von der evangelischen Akademie in Hofgeismar. Hier fand die Szene der frühen siebziger Jahre unter der weisen Administration von Frau Dr. Ingrid Riedel ihre Stimme. Hier lernte ich den Schriftsteller Reimar Lenz kennen und Che Urselmann, der den Zero-Büchertisch machte. Es gab immer das offizielle Programm, wo die Großkopferten der Szene ihren Aufritt hatten, sei es Dieter Duhm, Hadayatullah Hübsch (damals mit Perserkäppchen und pakistanischen Begleitern) oder all die vielen anderen, die damals mit Büchern, Projekten und Ideen von sich reden machten. Ich lernte Gerriet Hellwig kennen, der mit seinem Projekt der ‚alternativen Kooperation‘ ein neues Konzept der Vernetzung von Mensch und Kompetenz entwarf. Ich traf den eingeborenen Worpsweder Künstler Matthias ‚Regenmacher‘ Kaufmann oder Julian Pawlik, der vom Topmanager zum Biotherapeuten transformierte, Carl Ludwig Reichert, Erfinder des deutschen Mundartrock und bayrischer Gelehrter. Viele dieser Namen waren mir für lange Jahre (oder sind es sogar bis heute) liebe Freunde. Neben dem offiziellen Programm gab es die Frisbee-Szene in dem riesigen Park, wo die Clans wie Löwenrudel beieinander lagen und neueste Ernährungsdogmen ausfochten. Nachts begannen endlose Trommel- und Trancesessions, und alles noch richtig selbst mit der Hand gemacht, liebe Kinder.

Draußen bei der Garderobe im Flur, wo die Akustik am besten war, saß ich meist mit meiner Gitarre und spielte Lieder und Balladen und zum Abschluss des Abends meine Linsensuppensutra, ein Zen-Lied, das – meist – zur augenblicklichen Erleuchtung führte.

Jahre später war Gerriet Hellwig Modemacher in Düsseldorf und ich, der ich einen Bus hatte, wurde sein Vertreter. Er machte verrückte Klamotten und ich fuhr durchs Land und verkaufte sie. Eine Zeitlang lief es sehr gut. In meinem Bus hatte ich meine Gitarre und egal, wo ich in Deutschland hinkam: es gab immer eine Gruppe oder Familie, die einen warmen Platz und eine Mahlzeit für den Barden hatte. Gute alte, irische Tradition: lange Nächte mit Geschichten, die wir uns erzählten, denn die meisten von uns hatten damals – wie Salzinger – ihren Fernseher aus dem Fenster geworfen oder hatten gar keinen, wegen der Kinder. Wenn ich vorbei kam, wurde gegessen, geraucht, getrunken und erzählt.

Im tiefen Odenwald, hinter Löhrbach über den Berg im Eiterbachtal, standen die Tipis der Lü-Leute, einer fränkischen Korbflechter-Gemeinschaft, die für mehrere Jahre mit Zirkuswagen und Indianerzelten in Deutschland unterwegs war. Ob ich sie in ihrem Winterlager traf oder beim großen Sunwheel Gathering[6]: wann immer ich kam, hatten sie ein Tipi für mich, wenn ich nicht im Bus schlafen wollte. Die Lü-Leute bauten große Öfen und kochten auf Festivals und bei Veranstaltungen. Sie waren Deutschlands Hog Farm-Kommune. Sie lebten mit ihren Kindern ganzjährig wie Nomaden im Freien, und wenn ich kam, pellte ich mich aus meinen schnieken Stadtklamotten, begrüßte die Kinder und dann gab es in einem mollig warmen Zelt oder Wagen süßen, schwarzen Tee, Geschichten und ‚Kräutelein‘, bis das Häuptelein zerbarst.

Spaak hatte einen großen Hof auf einer einsam gelegen Waldlichtung bei Langenschiltach im Schwarzwald. Hier fanden große Sommertreffen statt, Ferienlager für die Kinder unserer Familien oder die ersten Workshops unter Anleitung traditioneller Indianer, wie dem Lakota Brave Buffalo oder Philipp Deere. Der hatte das American Indian Movement (AIM) bei deren Auseinandersetzung am Wounded Knee als Medizinmann unterstützt und war nach Deutschland gekommen, weil man ihm ein neues Gebiss versprochen hatte, ein Versprechen, das der weiße Mann auch diesmal brach.

Durch meine berufliche Tätigkeit war ich ständig in ganz Deutschland unterwegs. Ich stellte Kontakte zwischen Gruppen her, erzählte den aktuellen Tratsch und Klatsch, brachte meine Geschichten unter die Leute, und nachts am Feuer rauchten wir und klimperten auf der Gitarre.

Im Schwäbischen leitete Julian Pawlik mittlerweile Bioenergetik-Workshops, im Fränkischen konnte, wer Mut und Nerven hatte, bei Raymond Martin[7] reinschauen. In München war Carl Ludwig Reichert meine erste Anlaufstelle, der die damals sehr populäre Radiosendung Zündfunk Nachtausgabe machte, in der auch ich eines Nachts meine Lieder sang und Geschichten erzählte. Ich genoss das Vagabundieren lange Zeit, aber gleichzeitig hatte ich mein Brot zu verdienen. Die Arbeit wurde immer härter, das Fahren stressiger, mein Pensum immer größer und mein Wunsch nach Ruhe auch. So wie das, was man mal ‚Szene‘ nannte, zerfiel, so zerfiel auch irgendwann mein Bedürfnis, ständig irgendwo mit irgendwem zu ratschen. Ich war oft müde, ging immer häufiger in Pensionen zum Übernachten und genoss es, für mich zu sein. Ich brauchte die Ruhe, einfach um mich zu regenerieren.

Ich war dadurch oft wochenlang für mich allein, und begann wieder zu lesen. Neue deutsche Autoren kannte ich kaum. Bei Pieper, der häufiger mit Walter Hartmann arbeitete, sah ich erstmals Gasolin 23 und die ersten FALK-Hefte. Jonas Überohr [Helmut Salzingers Pseudonym für seine Kolumne in der Musikzeitschrift Sounds] war mir ein Begriff. Charles Bukowski, der mir John Fante und Knut Hamsun schmackhaft machte, habe ich leider erst sehr spät entdeckt. Nachdem ich Bukowski gelesen hatte, begriff ich überhaupt erst, warum die deutschen Autoren plötzlich alle so einen auf Macker machten. Jeder wollte die härteste Sau sein, was bei manchen Knaben nun wirklich komisch rüberkam. Offensichtlich hatte jeder letzte Nacht in einem Kühlraum betrunken mit einer tiefgefrorenen Schweinehälfte erst Sex und dann eine Prügelei gehabt. Die meisten Sachen, die mir in die Finger kamen, mochte ich nicht. Kein Humor. Grottenlangweiliges deutsches Mackertum. Einen Salzinger oder Köppen kannte ich noch nicht, geschweige denn die neue Generation der Slam Poeten, die ihr Publikum mit hammerstarken Texten umblasen und nicht diese langweiligen barocken Nebelschwaden der Selbstbeweihräucherung zelebrieren, die ich früher auf Lesungen erleiden musste. Mit anderen Worten: eine Weile war ich froh, dass mein Bezug zu den ‚deutschen Beats‘ denkbar lose war.

Dann kam Tim Leary aus dem Knast, und seine erste Auslandsreise führte ihn zu einer großen Tagung nach Deutschland. Pieper und ich waren seine Roadies und fuhren Leary in meinem roten Bus herum.
Im Herbst jenes Jahres, 1985, fuhr ich nach New York, verkrümelte mich aber schnell nach Colorado, wo der Tao-Meister Gia Fu Feng eine Gruppe junger Deutscher trainierte. Gia Fu bat mich, einige Hühner zu schlachten, wofür seine Jünger offensichtlich schon zu feinstofflich waren. Auf dem Weg zu den Hopi-Indianern, wohin mich Großmutter Carolyn Monongye zuvor auf der Buchmesse eingeladen hatte, holte ich mir am Wolf Creek morgens in der Kälte beim Schultern meines zwanzig Kilo schweren Lowe Liberty-Rucksacks meinen ersten Hexenschuss, den ich bei den Hopi auskurierte. In Los Angeles wartete ich im Alta Cienega Hotel darauf, dass Tim Leary vom Thanksgiving-Essen bei seinen Schwiegereltern zurückkommen würde. Ich verbrachte diese Tage in Bearnie’s Beanery, einer Kneipe, vor der Bukowski ausdrücklich gewarnt hatte. In San Francisco schoss mein Gastgeber Tom Ruddock, ein Kumpel aus Heidelberger Tagen, ein Bild von mir vor dem City Lights Bookshop und vor der Free Clinic im Haight Ashbury-Viertel. Ich hätte Shunryu Suzuki besuchen sollen und mein Leben hätte sich vielleicht voll­kommen verändert, aber ich wusste damals noch nichts von dem Meister, der den Zen in den Westen gebracht hatte, und selbst Baker Roshi[8] habe ich erst Jahre später kennengelernt. Tom Ruddock konnte sich achtzehn Stunden am Tag Basketball reinziehen, während ich Briefe schrieb. Dann hing ich wieder ein paar Tage bei Tim Leary in Hollywood herum und hatte grässliches Heimweh nach meiner Familie. Damals spielte ich noch kein Golf. Mein Leben hatte noch keinen Sinn. Ich flog zurück und war Weihnachten zu Hause.

Eines Tages Ende der achtziger Jahre, zurück aus den Staaten, fuhr ich mit Pieper nach Norden. Wir besuchten den ‚Regenmacher‘, der am Weiherberg in Worpswede lebte, dann fuhren wir erstmals nach Odisheim, Helmut und MO Salzinger besuchen. (…)

Michael Kellner schaute in dieser Zeit öfter herein. Das war um 1990 herum, als die Gruppe 60/90 entstand. Helmut schenkte mir alle FALK-Ausgaben, seine anderen Bücher und lud mich ein, zur Ausgabe von Gate [d.i. FALK/Neue Folge Nr. 3] ein Gedicht beizusteuern. Ich schrieb, erstmals seit langer Zeit, ein Gedicht. Ich weiß nicht, was die anderen davon hielten, aber ich mochte es. Es heißt Der gelbe Engel und handelt von Erleuchtung und dem ADAC. Als ich die anderen Gedichte in dem Heft las, wurde mir (wieder mal) bewusst, dass ich als ernster Autor keine Chance hatte.[9]

Zu der Zeit dieser Projekte wie FALK bzw. bei deren Produktion war ich nicht dabei. Ich nahm damals, von Salzinger protegiert, an manchen Treffen der 60/90-Gruppe teil und war bei dem obligatorischen Besäufnis nach der Lesung mit Reinhard Heß und Theo Köppen für die Blues-Session zuständig.

Ansonsten war ich mehrmals im Jahr bei MO und Helmut, um die beiden ein bisschen von Helmuts Krankheit abzulenken, die ihn auf immer neue Weise traktierte. Jahrelang musste er zweimal die Woche zur Dialyse nach Cuxhaven gefahren werden, bis ihm dann ein Blutaustauschgerät in Odisheim zur Verfügung stand. Es war eine endlose Quälerei, die er tapfer ertrug. Meine größte Freude war, wenn ich ihn zum Lachen bringen konnte. Oder, wenn er mit seinen langsamen, wohlüberlegten Fragen versuchte, etwas aus meinem Leben zu erfahren, das ihm, angebunden wie ein Uhu an der Jule, vorgekommen sein muss wie der freie Flug des Falken.

Mit großem Mitgefühl nahm er auch an meinen regelmäßigen Abstürzen teil. Aber dass ich immer wieder Aufwind unter die Flügel bekam, schien auch ihm bisweilen Mut zu machen. Helmut war kein Jammerer und selbst hinter seinem Leid lauerte stets ein feiner, blinzelnder Humor.

Uns verband eine sehr persönliche Beziehung, keine künstlerische, und darüber waren wir beide froh. Bis zu seinem Tod waren wir enge Freunde. Ich schreibe das sozusagen als Legitimation, denn bei FALK war ich kein Mitwirkender. Während in der HEAD FARM gefalkt wurde, düste ich, selber ein unsteter, bunter Vogel, durch die Welt. Ich war mit einer Menge von Dingen befasst, mit denen sich auch Helmut, aus einer anderen Perspektive, beschäftigte. Nachdem wir uns kennenlernten, wurden wir uns sehr nah, weil wir einander so gut ergänzten. Vielleicht hatte jeder etwas im Anderen, was er in sich vermisste. FALK war ein Bewusstseinszustand, den man besingen, beschreiben, mystifizieren – oder erleben konnte. Aber: ich war nicht dabei, als die Hefte gebastelt wurden und die Kollegen sich die Nächte um die Ohren schlugen, um Heftseiten zusammenzulegen.

Mit Helmut machte ich eine gemeinsame Wanderung. Tagelang beschäftigten wir uns mit allem, was ich von Japhy Ryder gelernt hatte, seit ich fünfzehn war: Ausrüstung kaufen, Rucksäcke stopfen, Schlafsäcke rollen. Helmut, mit heiterem Ernst bei der Sache, war glücklich, doch noch einmal aus der Hütte zu kommen. Es waren nur drei Tage, aber wir waren unterwegs, und so beschwerlich der Weg für unsere alten Knochen war, der Göhrder Mörder Marsch[10], wie Helmut die Wanderung nannte, war unser gemeinsames FALK-Projekt, wo wir – na ja, eher wie zwei alte Krähen, die sich mit den Krallen im schweren patschnassen Pullover verfangen hatten – im Kreis liefen.

Und dann, einmal, kamen wir auf einen hohen Berg. Darauf war ein Turm, und von dort aus, höher als die Falken fliegen, schauten wir über das weite Land. Selbst ich schwieg für einen Moment und Helmut lächelte dankbar.


[1] Robert Jungk. Scherz & Goverts, Stuttgart 1956.

[2] Der Mensch entstand durch Kannibalismus – Intelligenz ist essbar. Econ Verlag, Düsseldorf 1971.

[3] Jetzt als CD auf SIREENA, LC 11127 – Bezug durch www.gruenekraft.com

[4] Rotbuch-Verlag Nr. 289, Berlin 1984.

[5] Schildkröteninsel. Frank Schickler Verlag. Berlin, 1980. Deutsch von Ronald Steckel. Neuauflage in vom Übersetzer durchgesehener Fassung: Stadtlichter Presse, Berlin 2006.

[6] Europäisches Medizinrad-Treffen 16. September bis 1 Oktober 1983. Siehe Gugenberger/Schweidlenka, Mutter Erde, Magie und Politik. Zwischen Faschismus und neuer Gesellschaft. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1987

[7] Verleger und Herausgeber der U-Comix und der Zeitschriften Päng, später Liebe.

[8] Richard Baker Roshi: Amerikanischer ZEN-Meister und Dharma-Nachfolger von Shunryu Suzuki

[9] Also wurde ich humoristischer Autor (wovon man in diesem Text wenig merkt). Ich schrieb eine Satire über den Golfsport, von dem ich mehr verstehe, als von Literatur. Der Weg der weißen Kugel erscheint seit Jahren immer wieder verändert und erweitert, weil ich keine Zeit habe, etwas Neues zu schreiben. Die aktuelle Ausgabe, 2005 im KOSMOS-Verlag erschienen, wurde für Jahre Deutschlands meistverkauftes Golfbuch. Helmut hätte sich für mich gefreut und MO hätte eine Flasche aufgemacht und mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme gekichert.

[10] Helmuts Bericht von unserer Göhrde-Wanderung las Theo Köppen im Sommer 2003 bei Peter Engstlers Verlagstreffen an der Kalten Buche in der hohen Rhön vor. – Im Sommer 2005 fuhr ich auch hin. Die Gegend um Ostheim ist mir gut bekannt. Ich traf alte Freunde, lernte neue kennen und war fasziniert, wie viele junge Leute die Lesungen mit großem Interesse verfolgten. Es wurde ein langer Abend. Nach den Lesungen klampfte ich mit Reinhard Heß wie in alten Tagen und schlief dann im Auto, während der Regen leise und beständig auf das Dach tropfte. Nach einen gemütlichen Frühstück verschwand ich wieder in einer anderen Welt.