Drei Bekloppte im Nebel

Draußen liegt dichter Nebel, der sich gar nicht auflösen will. Das erinnert mich an jene längst vergangenen Tage, an denen ich noch ein knallharter Allwettergolfer war. An eine Runde kann ich mich ganz besonders entsinnen…

Draußen war Frost und dichter Nebel und ich dachte: Heute ist der Platz so, wie ich ihn mag: menschenleer. Also rief ich im Club an. Der Manager sagte mir, der Platz sei offen und die Wintergrüns bespielbar. Es sei aber sehr frostig und neblig. Na und? Ich war damals kein Warmduscher, sondern ein Allwettergolfer, der auch unter verschärften Bedingungen arbeitete.

Als ich ankam, sah ich auf dem Parkplatz nur wenige Autos. Es lag wirklich dichter Nebel über dem Platz, so dass ich meinen Studien ohne größere Belästigung seitens anderer Golfer würde nachgehen können. Pitching- und Puttinggrün waren noch vereist, ebenso die Abschlagsmatten. Auf der Driving Range reichte die Sicht nicht mal bis zur 50-Meter-Markierung. Drei dick eingemummte Bekloppte schlugen ihre Bälle ins Nirgendwo. Diese Leute waren mir ein Rätsel. Was sollte der Schwachsinn. Es war kalt, es war gefroren und man sah keinen Ballflug. Normales Training war vollkommen absurd.

Bei mir war das anders. In Büchern über ZEN und die Kunst des Bogenschießens wird beschrieben, wie der Adept manchmal jahrelang mit dem Bogen übt, ohne einen Pfeil aufzulegen. Wenn er dann den Pfeil auflegen darf, dann steht er gerade mal einen Meter vor dem Strohballen, und das für weitere Jahre. Dieses Üben ohne Ziel, dieses Erspüren des Nebulösen jenseits meiner Möglichkeiten –– gerade deshalb war ich hierher gekommen. Das hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass ich es zu Hause nicht aushielt und undbedingt Bälle kloppen müsste, wie dfas bei anderen Spinnern der Fall war.. Nein – was ich praktiziere, war eine uralte, fernöstliche Kunst.

Nach ein paar Dehnübungen, die etwas hastig gerieten, weil es doch recht frisch war, begann ich mit meinen rituellen Handlungen. Ich gedachte, erst mal eine halbe Stunde Schwünge ohne Ball zu üben. Übungen der Mitte. Langsam, in perfekter Harmonie mit dem Universum und mit der unvergleichlichen Eleganz, die meinem Schwung nachgesagt wird.

Aber, ach was soll‘s. Ich schlug doch lieber ein paar Bälle, denn ohne Bälle war es irgendwie langweilig. Eine zeitlose Trance umgab mich. Die kühle Harmonie von Eisnebel und Unendlichkeit. Darauf folgte die Wirklichkeit, die mich mit nasskalter Luft umfing. Ich wachte aus meiner Trance auf und merkte, dass das Körbchen leer war. Wie schnell doch ein Korb mit Bällen verschwinden kann, wenn man in vollkommener universeller Harmonie agiert. Die Zeit schien auch stehen geblieben zu sein. Es waren knapp zehn Minuten vergangen. Eistropfen hingen an meinem Holz. Gleich werden die Jungs kommen und dann geht es auf, ins große Nebelmatch, dachte ich.
Die drei Bekloppten standen mittlerweile auf dem Puttinggrün. Was sollte denn das? Ihre Bälle rollten durch den angetauten Reif, der einen Eisring um den Ball bildete. Vollkommen sinnlos, jetzt Putten zu üben. Es ist außerdem wirklich schlecht für das Grün, wenn man bei Frost drauf rumläuft. Aber es ist nicht meine Sache, anderen Leuten reinzuquatschen.

Also ging ich auf das Puttinggrün. Neben mir die schemenhaften Gestalten, die Eisbröckchen von ihren Bällen wischen. Ich puttete ein paar Loch, stellte fest, dass sich ein Eisring um den Ball bildete und hob den Ball demonstrativ auf, in der Hoffnung, dass die anderen meinem guten Beispiel folgen würden. Leider nicht. Sie konnten mich wohl nicht erkennen.

Ich trabte zum Clubhaus zurück und bestellte einen Cappuccino. Seit der 2,50 Euro kostet, also nach meiner Währung fünf Mark, bestelle ich nur noch selten Kaffee und wenn, dann trinke ich ihn ganz langsam, Schluck für Schluck. Ich nahm meinen Keks, den ich genüsslich auf der Zunge zerschmelzen ließ. Einige Mitglieder saßen am Nachbartisch, tranken Kaffee und überlegten, ob sie bei diesem Wetter spielen sollten. Nein, sie wollten doch nicht spielen. Es war ihnen zu neblig. Sie machten sich auf und jemand ließ seinen Keks liegen, den ich mir sofort schnappte. Das war mein Glückstag und ich war ein Glückskeks.

Es zog mich zum 1. Abschlag. Wenn niemand kommt, gehe ich eben alleine, dachte ich. Ich spielte oft alleine. Eigentlich meistens. Kann sein, dass niemand mit mir spielen will, weil ich etwas wunderlich bin und mir jetzt auch noch die Haare wachsen lasse, nachdem ich in einer Fachzeitschrift las, dass langes Haupthaar ein Symbol von Freiheit sei.

Die drei Bekloppten waren mittlerweile verschwunden. Auf der Driving Range standen ein paar neue Spukgestalten, die sich dehnten und streckten und hofften, dass die fahle Sonne, die unwirklich hinter dem Nebeldunst schimmerte, bald herauskam. So lange wollte ich nicht warten. 

Der 1. Abschlag war frei. Ein vollkommen leerer Platz. Der Winterabschlag war nach vorne verlegt worden, aber ich konnte kaum über den Graben sehen, der direkt vor dem Damenabschlag verläuft. Dahinter war eine große, dichte, weißgraue Wand. Mit müheloser Geschmeidigkeit butterte mein Spoon durch den Ball, der eine Sekunde später in der weißen Watte verschwand. Was für ein herrlicher Tag, um ZEN-Golf zu üben. Die Unwirklichkeit des Seins umfing mich nach wenigen Schritten und ich wurde vom Nirwana verschluckt. An meinen Schritten merkte ich, dass es bergauf ging und ich auf der Linie war. Wie geplant lag mein Ball bei 170 Metern. In der steilen Bergauflage nahm ich meinen Baffler und der Ball zischte davon. Nach hundert Schritten sah ich, was der Manager mit Wintergrün meinte. 20 Meter vor dem Grün hatte man ein breiteres Loch mit einer Fahne in den Boden eingelassen und die Fläche drum herum geschoren. Mein Ball war zu weit geflogen. Ich chippte zurück und versenkte den Ball in dem extrabreiten, yipsfreundlichen, für Golfneurotiker tauglichen Winterloch zum Par.

Die nächste Bahn, ein Par 3, spielte ich in vollkommener Einsamkeit und Stille. Irgendwo ist Nirgendwo, und ich war mittendrin. Das Grün war auch hier vorverlegt und ich musste vom Sommergrünrand delikat zurückchippen, was mit dem Pitchingwedge zum erotischen Genuss wurde. Jedes Alter hat nun mal seine Schmankerl.

Dritte Bahn: Ich traf das Holz wunderbar weich, aber der Ball lag nicht bei 175 Metern, wo er sein sollte. Ich stellte mein Bag ab und ging auf 150 Meter zurück. Ich sah das Bag kaum noch. Suchend lief ich hin und her. Der Nebel wurde dichter. Der kurze Anflug von Sonne hatte sich längst verabschiedet. Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich zugeben, dass ich die Orientierung verloren hatte.

Das ist die verschärfte Form von ZEN-Golf. Der Weg ist das Ziel und dann ist auch der Weg plötzlich weg.

Alles aufgeben, alles loslassen, sagt Suzuki Roshi. Alles löst sich auf. Sein und Nichtsein sind weiße Watte in einem Universum voller Bälle, die zu kleinen kalten Tropfen verdichtet in der Luft hängen. ZEN und die Kunst, den Weg loszulassen. WOW. Davon habe ich immer geträumt. Aber ehrlich gesagt, war diese weiße Einsamkeit nach einer Weile etwas nervtötend, wenn man, wie ich, jetzt schon 15 Minuten im Kreis tappte und nichts, aber auch gar nichts an die 3. Bahn erinnerte. Hatte ich eine Zeit-Raum-Schranke durchschritten und war mitten in der Milchstraße gelandet?

Nein – Fakt war: Ich stand auf der 3. Bahn, es war dichter Nebel und links musste irgendwo der Kurzplatz sein. Aber ich konnte nicht mehr sehen, wo vorne und hinten, geschweige denn, wo links war. Beim Suchen hatte ich mich zu oft gedreht und war im Kreis gelaufen. Mein Kompass und mein Survival-Kit waren im Bag, das ich auch nicht mehr sehen konnte. Was, wenn die Sonne heute nicht mehr herauskommen würde? Wenn niemand mehr abschlagen würde? Wenn es dunkeln würde und ich würde am nächsten Tag erfroren aufgefunden werden? Wäre das ein angemessener Tod für einen Golfer?

Ich musste mein Bag finden. Darin waren Wasser, Brot, Beruhigungsmittel und die Signalpistole, die ich seit dem »Round-Robin-Turnier« in Baden-Baden stets mit mir führe. Ich möchte nicht verhehlen, dass ich eine leise Panik spürte. Es war nicht die Angst vor dem Eistod – nein – es war die Schande vor dem Gelächter, in das alle ausbrechen würden, wenn sich im Club rumspräche, dass ich mich auf der 3. Bahn verirrt hätte. Was nun?
Ich überlegte, laut um Hilfe zu rufen. In früheren Survival-Kursen hatte ich gelernt, dass Spaziergänger im Schwarzwald, die von Eis und Nebel überrascht wurden, nur wenige Meter von der Straße tot aufgefunden wurden, weil sie erstens nicht früh genug angefangen hatten, ein Nachtlager vorzubereiten, und zweitens nicht laut um Hilfe rufen wollten, weil sie das peinlich fanden. Mir war das auch peinlich, also lieber der erste Eis-Tote sein, als diesen Spott ertragen! Irgendwer, der mit seinem Hund am Waldrand rumläuft, zum Beispiel der Manager oder die Frau des Pros, würde mich finden. Sollte ich wirklich rufen? Nein, ich wartete noch. Eigentlich brauchte ich ja nur in eine Richtung gehen. Dann müsste ich zum Wald kommen oder zur Autobahn oder zu einem mir bekannten Loch. In diesem Moment trat ich auf meinen Ball. An der Spur im frostigen Gras erkannte ich, aus welcher Richtung er gerollt war. Also musste dort der Abschlag sein. Da die Spur länger war und eine Linkskurve hatte, musste ich den Ball gehookt haben. Ergo wusste ich, wo Nord-Nordost ist beziehungsweise wo das Grün lag. Ich schlug den Ball mit dem Baffler in die vermutete Richtung und lief hinterher. Nach 26 Schritten stand ich an meinem Bag. Der Kompass bestätigte meine Richtungsvermutung. Ich überlegte, ob ich ein kleines Signalfeuer machen sollte, fand aber kein Brennmaterial und lief weiter meinem Ball nach. Der lag, wie immer, hinter dem Wintergrün. Golf kann so einfach sein!

Am nächsten Tee wollte ich gerade abschlagen, als ich vor mir leises Klappern und Stimmen hörte. Ein Suchtrupp? Hunde? Warme Decken und heißer Tee? Ich hatte keine Ahnung, wer beziehungsweise wo diese Menschen auf der 4. Bahn vor mir waren. Ebenfalls Verirrte? Ich würde ihnen helfen. Deshalb schlug ich nicht ab, sondern lief vor. »Halloooo!« Nach hundertachtzig Schritten Süd-Südwest sah ich den ersten von den drei Bekloppten, der gerade versuchte, seinen Eisball aus dem gefrorenen Sand des Fairway-Bunkers zu hacken. Er sah nicht, dass seine beiden Kollegen direkt vor ihm liefen. »Achtung«, rief er im letzten Moment, während geeiste Sandbrocken durch die nasse Luft spritzten. »Hallooo!« Endlich bemerkten sie mich. »Hi, ich konnte nicht abschlagen, da ich nicht wusste, wie weit Sie vor mir sind.« Ich dachte, die drei Bekloppten würden mich jetzt um Hilfe und Orientierung bitten, aber nix da. Sie hatten gesunde, rote Backen, vermutlich eine gebratene Schweinehälfte und fette Brote in ihrem Bag und schienen auch zu
wissen, in welcher Richtung Süden lag. Keine Spur von Panik in ihren Gesichtern.

»Jemand vor Ihnen?«, fragte ich.

»Wissen wir nicht.« – »Kann man ja auch nicht sehen«, kicherte einer.

»Das ist mir zu gefährlich«, sagte ich, »Verursacherprinzip in der Rechtsprechung. Kann ich mir nicht leisten. Gibt Punkte in Flensburg.«

»Oha!« Die drei Bekloppten nickten, zuckten aber mit den Schultern und hackten sich weiter Richtung Süden, wo eine kaum sichtbare Sonne, hinter dichtem Milchglas verborgen, die Hoffnung weckte, dass der Tag doch noch schön werden könnte.

Hartnäckige, durchgeknallte Neugolfer, die auch im Nebel ihrem Handicap hinterherjagen. So irrsinnig, wie ich früher war, als ich noch bei Eis und Nebel über die Plätze lief, dachte ich. Aber ich war tolerant, grüßte höflich und verschwand.

Die vierte Bahn führt, wenn man ihre rechte Seite entlanggeht, zum 11. Abschlag. Und die 11. Bahn führt ins Tal zum Clubhaus. Dort waren Menschen, Wärme, heißes Wasser und Feuer. Durch nasses Gras schlurfte ich zum 11. Tee und schlug meinen Ball mit dem Spoon in die große, weiße Wattewand. Es ging gen Westen, nach Hause. Der Kompass stimmte mir zu.

(Aus: Golf Gaga – Der Fluch der weißen Kugel“)