Der Choleriker

Der städtische Verwaltungsbeamte Lothar Uhl war allgemein als gutmütiger Zeitgenosse bekannt. Er war kein Mann der großen Worte. Seine Fähigkeit, während eines Telefonats tief und fest einzuschlafen, betrachteten seine Vorgesetzten als Zeichen besonderer Ausgeglichenheit.

Unruhige Kollegen, zum Beispiel der Kämmerer, der in Anbetracht der Haushaltslage kaum noch Schlaf fand, schauten gerne mal bei Lothar vorbei, „um sich eine Mütze Schlaf abzuschauen“, wie es allgemein hieß.

Bei aller Gemütsruhe galt Lothar Uhl jedoch als Innovator. Seine auf scharfsinnigen Beobachtungen basierende Empfehlung an die Busfahrer der Stadtwerke, erst loszufahren, wenn alle Fahrgäste eingestiegen sind, reduzierte die Unfälle unter Rentnern und sorgte für zusätzliche Einnahmen durch Fahrgäste, was der Nachtruhe des Kämmerers gut tat.

Lothar Uhl hatte ein Hobby, nämlich die Stallhasenzucht. „Der geile Erwin“, wie sein Rammler unter Mitzüchtern respektvoll genannt wurde, war sein ganzer Stolz. Mit dem auf vielen Zuchtleistungsschauen prämierten Erwin verbrachte er einen Großteil seiner Tage und Nächte. Dann, eines Tages – es geschah in Rheda-Wiedenbrück auf einem Rammler-Symposium – brach Erwin aus seinem Reisekäfig aus und sprang in ein Streichelgatter, wo er unter den entsetzen Blicken junger Familien eine Häsin namens Helga bestieg. Helga, die große Hoffnung des Verbandsvorsitzenden Jupp Grösewitz, war die schönste Häsin von Niedersachsen. Man hatte große Zuchtpläne mit ihr, die der geile Erwin gründlich verdarb. Er rammelte das Weibchen derart durch das Streichelgatter, dass die Tauben aufflogen und sich die Meerschweinchen vor Angst im Stroh verkrochen. Und so kam es zum Eklat!
Erwin wurde von künftigen Leistungsschauen gesperrt und Lothar Uhl, der von Erwin menschlich sehr enttäuscht war, setzte den Rammler im Wald aus, woraufhin Erwin bald im Kochtopf einer Familie landete, die sehr hungrig war, weil weder das ARGE-Callcenter noch der für ihren Antrag auf Sozialleistungen zuständige Sachbearbeiter erreichbar waren.

Wie viele andere vereinsamte Gestalten wandte sich Lothar Uhl dem Golfsport zu. Er wähnte darin eine Individualsportart, die er ungestört von Fremdeinflüssen ganz für sich ausüben könnte.

Cartoon: Peter Ruge


Lothar, der schon als kleiner Junge darauf bestanden hatte, im städtischen Sandkasten entweder ganz allein oder gar nicht zu spielen, musste jedoch feststellen, dass ein Golfplatz auch von anderen Spielern genutzt wird. Seiner Gemütsruhe beraubt und durch die Trennung von Erwin verbittert, trat schließlich der dunkle Schatten des Cholerikers aus ihm hervor, der sich all die Jahre hinter seinem bräsigen Wesen verborgen hatte.
Bald war Lothar Uhl bei allen Clubmitgliedern wegen seiner Wutausbrüche gefürchtet. Auch auf der Arbeit wurde seine innere Wandlung besorgt registriert.
Als Lothar Uhl nicht mehr zu halten war, bot man ihm eine Weiterbildung zum Busfahrer an, die er gerne annahm. Jetzt fährt er die Linie vom Stadtzentrum raus, die am Golfplatz vorbeiführt.
Lothar Uhl wurde wie viele andere Golfer depressiv. Seine einzige Freude besteht darin loszufahren, wenn gerade jemand einsteigen will. Die Bustür zu schließen, wenn junge Mütter den Kinderwagen gerade mal halb in den Bus heben konnten, ist seine Spezialität. Dann gluckst er leise, was sein Therapeut gerne als „emotionalen Durchbruch“ bezeichnet.
 

© by Eugen Pletsch, 2011