Wie entstehen Konflikte? Meist durch Missverständnisse, die nicht aufgeklärt werden. So war es auch im Fall Ewald Lurch und seinen Kontaktlinsen ,denn ich wurde zufällig Zeuge von Ewalds abendlicher Runde.
An jenem Abend saß ich auf einem Hochsitz am Waldrand seitlich der 4. Bahn und betrachtete das abendliche Geschehen auf dem Platz. Zuvor hatte ich mich geärgert, dass mir ein Rennbuggy-Fahrer in den Rückschwung gebrettert war. Er kannte mich und wusste, dass ich ein schneller Spieler bin, sofern es möglich ist. Trotzdem maulte er mich auch noch an, warum es so langsam voranginge. Um noch einen draufzusetzen, empfahl er mir, mal etwas „mit Humor“ zu schreiben. Das ärgerte mich. Bin ich etwa ein Witzeerzähler? Nicht dass ich keinen Humor hätte – über Eds Geschichte vom Esel und den Brennnesseln vermochte ich sogar zu lachen, ohne sie wirklich verstanden zu haben, aber manchmal frage ich mich, was gewisse Leute unter „Humor“ verstehen? Vielleicht sollte ich auch schon mittags mit dem Saufen anfangen, um diese Leute zu begreifen. Doch würde das helfen, Konflikte zu vermeiden? Der Philosoph Eckhart Tolle sagt sinngemäß, dass ein Konflikt nicht auf der Ebene des Bewusstseins gelöst werden kann, auf der er entstanden ist.
Über solche Dinge dachte ich auf dem Hochsitz nach, während ein bunter Reigen von Golfern an mir vorbeizog. Schließlich versank ich in meditativer Stille, bis mich die abendliche Kühle weckte. Es war dunkel geworden, nur ein überirdisches Leuchten strahlte über das Fairway, vermutlich Elektrosmog. Ich wollte gerade vom Hochsitz steigen, als ich die schemenhafte Gestalt von Ewald Lurch erblickte, der, vom Schwung her unverwechselbar, auf dem 4. Abschlag stand und mit seinem Eisen wie ein Seeräuber um sich schlug.
Als Kind war der kleine Ewald ein schmächtiges Bürschlein gewesen, das beim Sprechen auf eine seltsam glibbrige Weise echsenhaft züngelte, weshalb er schon im Kindergarten Lurchi gerufen wurde. Sowie der kleine Ewald lesen konnte, wurde ihm bewusst, woher der Spott kam, denn er war keineswegs wie der Held aus dem Salamander-Schuh-Heftchen und hasste es deshalb umso mehr, wenn seine Mutti darauf bestand, ihm ein grünes Hütchen aufzusetzen, bevor sie ihn in die Schule schickte.
Der kleine Ewald wuchs heran und mit der Zeit entwickelte er eine schmierige Form von Eloquenz, die ihm als Vertreter für schleimige Produkte aller Art ein gutes Einkommen sicherte: Handseifen, Cremes, Putzmittel – das alles ging ihm an der Haustür flott von der Hand, wobei Damen beiderlei Geschlechts mit Genuss feststellten, dass der kleine Ewald einen großen Lurch hatte.
Über die Jahre, so hat es die Natur eingerichtet und es ließ sich nicht ändern, wurde Ewald immer kurzsichtiger, fast so sehr wie der Autor dieser Zeilen, dem das Tageslicht nur dämmrig durch die colaflaschenbodendicken Brillengläser dringt.
Diese Fehlsichtigkeit ist etwas, das uns verbindet. Seit ich wieder in Bauernburg spielte, gingen wir manche gemeinsame Runde, weshalb man uns den „Blindschleichen-Flight“ nannte. Dabei spielten wir schneller, als eine Kreuzotter zubeißen kann!
Tja, der Lurchi. Da hackte er sich also nächtens über die Bahn und ich wunderte mich, was er da trieb. Wie eine Wildsau durchpflügte er die Wiese, hin und her, auf und ab. Grasbutzen flogen umher, als er immer hektischer und wütender um sich schlug. Schließlich, als wollte er an aller Welt, an allem erlebten Spott, an aller Bosheit, die ihm je widerfahren war, Rache nehmen, prügelte er wütend wie ein Berserker auf das Fairway ein.
Es ist mir natürlich bekannt, dass man Prozesse der Selbstfindung und Befreiung nicht unterbrechen darf. Erst als er sich in gefährliche Nähe zum Grün voranhackte, rief ich, um das Schlimmste zu verhindern, ganz sanft seinen Namen:
„Eeeewald!“
Er hackte weiter.
„Eeeeeewald!“
Er konnte mich nicht hören. Als er fast am Grün angekommen war, zog ich die Notbremse: „EEEEEEWALD LURCH!“
Jetzt hielt er inne und schaute auf. Schweißüberströmt, soweit man das im Halbdunkel sehen konnte, und ohne Brille!
„Mein Gott, Ewald! Was ist los? Was treibst du hier?“
Ewald schien mehr als nur desorientiert zu sein. Er war außer sich. Er war in jenem gottlosen Zustand, in dem brave Bürger morden, Soldaten Massaker begehen und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinalprodukte (BfArM) Amalgam als Zahnfüllung und Thiomersal in Impfstoffen für unbedenklich erklärt. Langsam schien er zu erwachen, schließlich erkannte er mich:
„Was machst du denn hier?“
„Das möchte ich dich fragen! Warum zerhackst du das ganze Fairway?“
„Was mache ich?“
„Da, schau, was du angerichtet hast! Die ganze Bahn ist kaputt!“
„Das kann ich nicht sehen.“
„Wie – kannst du nicht sehen? Wo ist deine Brille?“
„Ich trage heute erstmals Kontaktlinsen.“
„Du? Kontaktlinsen?“
Warum hatte Ewald unsere sportliche Zweisamkeit als Blindschleichen verraten?
„Kontaktlinsen?“ Ich war entsetzt.
„Die Löcher sehen dadurch angeblich größer aus, der Ball ist größer, alles ist irgendwie größer.“
„Ach Ewald, ich bin enttäuscht. Durch unsere dicken Brillengläser mag die Welt zwar winzig wirken, aber ist es nicht gerade das Ameisenhafte, dieses verzwergte Gewusel, was uns beiden das Leben erträglich macht?“
Ewald wand sich.
„Ich wollte nur mal wissen, wie andere die Welt sehen.“
„Und dafür zerhackst du die Bahn?“
„Ich hab nur versucht, meinen Ball zu treffen und als das nicht gelang, kam ich irgendwie in Rage.“
„In Rage. Das kann man wohl so nennen. Komm jetzt, Ewald, ich begleite dich zum Parkplatz.“
Der verschlammte und verschwitzte Ewald trottete neben mir her und maulte leise vor sich hin. Als wir am Parkplatz ankamen, schaute er mich besorgt an.
„Und? Wirst du mich verraten?“
„Nein, natürlich nicht, alter Freund“, besänftigte ich ihn.
Ewald schien erleichtert, doch leider hatte die Sache ein Nachspiel. Der Schaden wurde entdeckt und eine Rotte Jäger zu einer Treibjagd zusammengetrommelt, worauf alsbald drei unschuldige Wutzen ihr Leben lassen mussten. Dann zogen die Jäger in die nächste Gemarkung weiter, um auch dort noch einige Wildschweine zu erlegen.
Tja, so entstehen Konflikte, dachte ich. Meist durch Missverständnisse, die nicht aufgeklärt werden.
Ewald Lurch ist jetzt mein Knecht. Schmierseife bekomme ich umsonst und im nächsten Jahr auch noch mein Wunschhandicap. Etwas schmierig, die ganze Sache, aber schließlich muss jeder Freizeitgolfer sehen, wo er bleibt, oder?
Auszug aus: „Achtung Golfer!“ © by Eugen Pletsch 2010