Nachfolgend die chronologische Folge einer ökologischen Groteske…
Prolog:
„Es gibt Millionen Bäume, da kommt es doch auf einen nicht an“, sagte eine Miteigentümerin unseres Wohnhauses zu zwei NABU-Beauftragten, die sich eine Fichte ansehen wollten. Über einen Antrag zur Fällung dieser Fichte sollte in der Eigentümerversammlung abgestimmt werden und ich hatte interveniert, denn nachvollziehbare Gründe, warum diese Rotfichte gefällt werden sollte, wurden nicht mitgeteilt.
Erst knapp ein Jahr nachdem ich das erste Mal Gerüchte über diese absurde Idee vernommen hatte, am 14.8.2022, wurden in einem Schreiben der Hausverwaltung an eine Miteigentümerin (die sich auch gegen die Fällung ausgesprochen hatte) folgende Gründe genannt:
„Der Baum stört einige Anwohner und er zerstört mit seinem Wurzelwerk auch das Pflaster und den Zaun.“
Am gleichen Tag wurde in den Nachrichten mitgeteilt, dass im Sommer 2022 mehr Wald als jemals zuvor Opfer der Flammen und der Trockenheit wurde. Die Antwort an Menschen, die wie meine Miteigentümerin denken wäre also:
„Derzeit sterben Millionen Bäume und es kommt auf den Erhalt eines jeden Baumes an!“
Erster Akt: 30.6.2022
Bei der Wohnungseigentümer-Versammlung unseres 9-Parteienhauses wird ein Antrag zum Rückschnitt oder Fällung des Nadelbaums auf der Nordseite unseres Hauses gestellt. Der Antrag wurde ohne Begründung gestellt und seitdem herrscht Unfrieden im Haus, der jedoch nicht der Antragstellerin sondern mir angelastet wird.
Warum die Fichte weg soll, ahnte ich bereits: Ein paar Äste drücken auf den Zaun und da zerstört frau ordnungshalber sofort das gesamte Biotop.
Dass sich Pflastersteine am Parkplatz durch das Wurzelwerk heben ist auch Quatsch, denn das Pflaster hebt sich fast auf dem gesamten Parkplatz, insbesondere entlang der Hausmauer.
Ich habe nichts dagegen, im Herbst ein paar der unteren Äste zu stutzen, aber eine Fällung – in der heutigen Zeit – das ist doch Wahnsinn. Deshalb habe ich mich in einem Schreiben an die Miteigentümer und die Hausverwaltung vehement gegen die Fällung dieser kräftigen, kerngesunden Fichte ausgesprochen.
Meine Argumente:
Diese Fichte, auch Rottanne genannt, siehe https://www.baumkunde.de/Picea_abies/
- ist ein wunderbares Biotop,
- reduziert den Autobahnlärm auf der Schlafzimmer-Seite,
- schützt unser Hauses gegen Nord/Ostwind,
- reduziert Anflug-Dreck vom Nachbarfeld (Raps, Staub etc.)
- verbessert das Hausklima,
- bietet den Falken Aussicht,
- vielen anderen Vögeln Nahrung und ggf. Schutz,
- ist derzeit Nistplatz von Tauben,
- ist ein Schattenspender,
- ist ein von Insekten dringend benötigter Pollenspender (weshalb auch der regionale Imker, Herr Schneigelberger, meine Position unterstützt)
- und ist – ganz persönlich – meine tägliche Freude, wenn ich an dem Nord-Fenster sitze und arbeite.
2. Akt:
Corinna Kabot vom NABU besucht und fotografiert den Baum. Sie schrieb mir: „Es wäre ein Riesenschaden ein solches Öko-System zu vernichten.“ Auf ihrer Facebook-Seite wurde sie noch noch deutlicher:
„Diese wunderschöne, gesunde Fichte habe ich in der Lilienstraße in Langgöns entdeckt. Welch ein vollkommenes Ökosystem! Sicherlich gibt es viele nützliche Tiere, die darin nisten oder Nahrung finden. Zum Beispiel dienen die Pollen den Honigbienen und den Wildbienen als wertvolle, proteinreiche Nahrung, also Kraftspender.
Honigbienen und Wildbienen, wie z.B. Hummeln, Wespen und 100 andere Arten mehr sind dringend auf solche reichhaltigen Nahrungsquellen angewiesen. Wir Menschen als Konsumenten von Obst und Gemüse sind dringend auf die Bienen als Bestäuber angewiesen. Deshalb stehen die Wildbienen unter strengem Artenschutz. Für das Entfernen oder Beschädigen eines Hummelnestes muss man in Hessen mit einem Bußgeld von 50 000 Euro rechnen. Doch leider ist es in der Gemeinde Langgöns nicht mit Bußgeldandrohung verboten, einen solchen Baum zu fällen wenn er auf Privatgelände steht. Dabei wird durch die Fällung unzähligen nützlichen Tieren eine wertvolle Nahrungsquelle entzogen, die mindestens 80 Jahre lang für ihre Entstehung brauchte. Das kann nicht durch Neupflanzungen an anderer Stelle oder Blühstreifen ersetzt werden. Es ist nützlich, neue Nahrungsquellen für unsere lebensnotwendigen Insekten und Vögel anzupflanzen. Doch leichter wäre es, vorhandene Nahrungsquellen nicht zu beseitigen!“
Zur Eigentümerversammlung ging ich nicht. Ich hatte Angst vor einer Bluthochdruckkrise und dass ich vor Wut ausfällig werden könnte. Lieber fotografierte ich den Baum mit seinem blühenden Leben. Außerdem nahm ich Kontakt zur Unteren Naturschutzbehörde auf, die mir dringend empfahl, die Hausverwaltung auf die Folgen einer unüberlegten Fällung hinzuweisen.
3. Akt
Nach der Eigentümerversammlung vom 7.7.2022 teilte mir die Hausverwaltung telefonisch mit, man habe die Fällung der Fichte erstmal abwenden können, obwohl alle außer mir dafür gestimmt hätten. (Was so nicht sein kann, da noch zwei weitere Miteigentümer vorab per Vollmacht gegen die Fällung gestimmt haben).
Tage darauf erhielt ich das Protokoll der Sitzung, wonach der Hausmeister die unteren Äste der Fichte stark zurückschneiden soll. Zudem wurde die Hausverwaltung beauftragt, die Kosten einer Fällung bis zur nächsten Versammlung zu eruieren. Was bedeutet, dass der Baum-Irrsinn noch nicht vorbei ist.
Ich sprach eine Mitbewohnerin an, die sich massiv für die Fällung einsetzt. Ihr Argument: Dieser Baum wäre ein FLACHWURZLER und irgendwann könnte er umfallen. Irgendwann! Ja klar.
Eine Fällung kostet ca. EUR 3000.- Wenn mehrfach dokumentiert wurde, dass die Fichte kerngesund ist, wäre der Schaden doch problemlos versichert, wenn die Fichte eines Tages tatsächlich vom Sturm umgerissen werden sollte. Also, was soll das?
Alle meine Argumente für den Erhalt der Fichte, die ich den Miteigentümern vortrug, per Mail zuschicken ließ und später per Aushang im Haus bekannt machte, interessierten nicht. Ich weiß nicht, ob die Damen zu viel in der Landlust geblättert haben und nun gärteln wollen. Jedenfalls planen sie ein belebtes Biotop umzuhauen, um an ungeeigneter Stelle einen Blütenstreifen anzulegen. FÜR DIE BIENEN! Wie wäre es erstmal mit ein paar Blumen auf dem eigenen Balkon? Oder sich mit unserem Imker über Bienenweiden zu besprechen?
Ein paar Tage resignierte ich, bis mir folgender Gedanke kam:
Wenn die Fällung umgesetzt wird, müsste ich mich gemäß Beschluss der Eigentümerversammlung an einem – aus meiner Sicht – schweren Umweltfrevel beteiligen, die Kosten mittragen und sollten Verbotstatbestände nach § 44 BNatSchG entdeckt werden, auch noch die Strafe mitfinanzieren. Das kann doch wohl wahr nicht sein!
Also kontaktierte ich die HGON und erhielt ein Schreiben von Dr. Tobias Erik Reiners – dem Vorsitzenden der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz e.V:
„Der Biodiversitätsverlust gehört zu den größten Krisen unserer Zeit. Unser Verband hat dies über 50 Jahre insbesondere anhand des Rückgangs unser Vogelwelt eingehend dokumentiert. Hierbei betrifft der Rückgang der Biodiversität und Vogelwelt alle Lebensräume, den Wald, die Gewässerlebensräume, das Offenland und auch den Siedlungsbereich gleichermaßen. Neben der zunehmenden Versiegelung ist im Siedlungsbereich der Verlust von Bruthabitaten ursächlich für den Rückgang der Vögel.
Die Fällung einer gesunden Fichte am Ortsrand mag im Einzelfall trivial und „nicht wichtig“ erscheinen. Und doch ist der in allen Siedlungen seit Jahren fortwährende Verlust von größeren Bäumen, insbesondere von Nadelbäumen, ursächlich für den Rückgang von bspw. Girlitz, Grünfink und Türkentaube. Auch beim Turmfalke nimmt die Anzahl von Bruten in Bäumen stetig ab.
Eine Fällung von Bäumen, wie diese Fichte, ist aus unserer Sicht eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensraumausstattung in ihren Siedlungsbereich. Der Verlust wirkt dabei ebenso schädlich auf die Biodiversität, wie die allerorts vorhanden Schottergärten. Wir möchten die Hauseigentümer bitten ihre Entscheidung zu überdenken und gerne anbieten bei einer gemeinsamen Begehung über die wertvollen Effekte dieser Einzelbäume im Siedlungsbereich aufzuklären. Gleichwohl will ich auch auf die Verbotstatbestände hinweisen, die gesetzlich verbieten Brutbäume zu fällen. Die Klimawirksamkeit dieses Baumes in CO2 Speicherung, Beschattung und Wasserrückhaltevermögen durch das Wurzelwerk lassen Sie in Ihren Vorhaben scheinbar auch unberücksichtigt. Solche wie diese Einzelentscheidungen führen zu tausenden in unseren Siedlungen zu einer lebensfeindlicheren Zukunft.“
Beste Grüße
Dr. Tobias Erik Reiners
Ich bekam auch Rückendeckung von Herrn Wenisch, einem landesweit bekannten Artenschützer und NABU Beauftragten in Langgöns, der mir die nochmalige Kontaktaufnahme mit der Unteren Naturschutzbehörde dringend empfahl. Er habe den Baum gesichtet und keinen Grund zur Fällung entdecken können. Ein paar Tage später kam auch Herr Oberländer, der frühere Vorsitzende der NABU Oberes Kleebachtal und renommierter Baumkenner zu Besuch, um sich die Fichte anzuschauen.
Er konnte keine Schäden am Baum entdecken, im Gegenteil. Er avisierte einen zweiten Besuch zwecks genauerer Untersuchung. Ich erzählte ihm von meinen Beobachtungen im Frühsommer, als die Tauben mit Nistmaterial im Baum verschwanden.
Die Bilder mit Tauben im Baum stammen vom Frühsommer. Mittlerweile sieht man sie zwar noch oft auf den Außenästen sitzen, aber sie klettern nicht nicht mehr in den Baum, um dort mit Zweigen im Schnabel zu verschwinden.
4. Akt
Frau Thiele und Herrn Oberländer kommen am 10.8.2022, um die Fichte auführlich ausgiebig zu begutachten.
Das Ergebnis erhielt ich am 13.8.2022 von Herrn Oberländer. Ich werde seine Artenschutzprüfung den zuständigen Stellen weiterleiten und hoffe, dass die Hausverwaltung den Text auch den Miteigentümern zukommen lässt. Immerhin habe ich der Hausgemeinschaft die Kosten einer Fällung von ca. EUR 3000.- sowie die Kosten einer Begutachtung und mögliche Strafen wegen Verstößen gegen den Artenschutz erspart. Ich denke, es ist an der Zeit, meinen Fight for Fichte zu beenden.
Eugen Pletsch
Das Schlusswort hat Günther Oberländer:
Artenschutzprüfung
Stellungnahme zum Vorhaben „Fällung einer Rot-Fichte (Picea abies)“ in der Gemeinde 35428 Langgöns/OT Lilienstraße 18
Sehr geehrter Herr Pletsch,
Ihrer Bitte entsprechend haben wir am 27.07.2022 eine Artenschutzprüfung im o.g. Objekt in Ihrer Anwesenheit durchgeführt.
Im Ergebnis dieser Prüfung konnte zur Frage der Schutzwürdigkeit des Baumes folgendes festgestellt werden:
Die betreffende Rotfichte (Picea abies) wurde auf Beschädigungen durch Fremdeinwirkung, auf Sturmschäden, Wuchsschäden, Schadinsektenbefall, Wurzelschäden sowie auf Trockenschäden augenscheinlich untersucht.
Es konnten keine Schäden festgestellt werden.
Für die Befürchtung einiger Bewohner des Hauses Lilienstraße 18, der Baum wäre umsturzgefährdet und könne am Haus große Schäden verursachen, gibt es aktuell keine Anhaltspunkte. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Baum bei einer Extrem-Wettersituation auch umgeworfen werden kann.
Die Fichte zeigt sich in einem ausgesprochen vitalen und gesunden Zustand.
Ein zu starkes Beschneiden der unteren Astquirle über die Höhe des Grundstückszaunes hinaus sollte jedoch vermieden werden.
Angebliche erhebliche Schäden durch Wurzeln der Rotfichte am Pflaster im sichtbaren Teil der Parkflächen konnten zum Zeitpunkt nicht festgestellt werden. Die zum Zeitpunkt sichtbaren Pflasterschäden resultieren möglicherweise aus einer schlechten Verlegung der Steine.
Im Weiteren konnte festgestellt und mit aktuellen Fotos belegt werden:
- dass offensichtlich schon mehrere Jahre (2022 nachgewiesen) zwei bis drei Bruten der Ringeltaube (Columba palumbus) erfolgreich stattfanden,
- dass Brüten von verschiedenen Singvogelarten (konnten aktuell nicht untersucht werden) sehr wahrscheinlich ist,
- dass die Fichte als Ansitzwarte für die Jagd regelmäßig vom Turmfalken und als Schlafbaum von Singvögeln genutzt wird.
Aus oben genannten Feststellungen ergeben sich für den oder die Besitzer eines Privatgrundstückes folgende rechtliche Konsequenzen:
- Gemäß Europäischer Vogelschutzrichtlinie 2009/147/EG vom 30.11.2009 ist der Erhalt sämtlicher im Gebiet der Europäischen Union natürlicherweise vorkommenden Vogelarten einschließlich der Zugvögel sowie deren Lebensräume und Lebensstätten zu sichern oder wiederherzustellen.
- Gemäß Bundes-Naturschutzgesetz, §§ gilt:
Der Artenschutz ist IMMER zu beachten. Die rechtlichen Grundlagen sind in § 39 und §44 BNatSchG näher beschrieben.
Grundsätzlich gilt:
Wenn ein Baum gefällt werden soll ist eigenverantwortlich zu prüfen, ob Tiere den Baum als Ruhe- und Fortpflanzungsstätte oder Lebensstätte nutzen. Ist dies der Fall, darf der Baum nicht einfach gefällt werden. Stattdessen ist mit der Unterer Naturschutzbehörde Gießen Kontakt aufzunehmen, um weitere Schritte abzuklären.
Bei allen Vogelarten greift der besondere Artenschutz nach §44 BNatSchG, der mit strengeren Auflagen verbunden ist.
Aus Gründen des Artenschutzes gibt es für das Fällen der Rot-Fichte aus unserer Sicht erhebliche Bedenken, sodass aus rechtlicher Sicht einer Fällung der Rot-Fichte nicht zugestimmt werden kann.
Mit freundlichen Grüßen
Günther Oberländer
NABU-Gruppe Oberes Kleebachtal
Update Oktober 2022
Der Baum wurden an den unteren Ästen vom Hausmeister sehr schön zurückgestutzt. Es sieht gut aus und der Zaun wird nicht mehr angedrückt.
Im Moment herrscht Frieden im Haus und ich hoffe, es bleibt so.
Ein Blumenbeet als Bienenweidewurde von den Baumgegnerinnen bisher (4/24) nicht angelegt. (ep)
Herbst 2022: Fette Ernte für etliche Piepmätze, die den Baum anfliegen.