Eine Weihnachtsgeschichte
Josek hatte sich geweigert, für eine der Bürgerkriegsparteien zu kämpfen und musste aus seiner Heimat fliehen. Freunde halfen ihm bei der Flucht. Nach langen, harten Wegen erreichte er Deutschland. Marthe blieb zurück. Josek betete, dass Marthe würde nachkommen können. Ohne Papiere war es schwer, Arbeit zu finden, aber als gelernter Zimmermann konnte er in einer illegalen Leiharbeiterkolonne auf dem Hochgerüst malochen. Er hauste mit sechzehn Kollegen in einem Container, der höchstens acht Leuten Platz bot. Josek sollte vier Euro die Stunde bekommen. Den Rest bekam der Vermittler. Aber am ersten Zahltag wurde ihm noch mal die Hälfte seines Lohns für die Unterkunft abgezogen. Nach einer Razzia musste er verschwinden. Endlose Stunden lief er aus der Stadt. Er wollte nur weg von diesem schmutzigen, lauten Ort. Irgendwann in der Nacht versteckte er sich in einem Schuppen und schlief ein.
Als er am nächsten Morgen vor die Tür trat, war alles so schön und grün, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Das sei ein Golfplatz, sagte ihm ein Mann, dem er begegnete. Dieser Mann, Besnik, war aus dem Kosovo geflohen. Sie konnten sich verständigen.
Besnik redete mit dem Clubmanager. Josek durfte im Schuppen schlafen und helfen. Er sammelte Bälle, flickte Zäune, grub Löcher. Er war fleißig. Der Manager war zufrieden. Nur durch diese Besniks und Joseks konnte er den Betrieb aufrechterhalten. Auch Josek war zufrieden. Er lernte deutsch. Aber er durfte keinen Kontakt mit den Mitgliedern und Gästen haben.
»Nur grüßen«, sagte der Manager. »Nix reden – du arbeiten!«
Josek verstand. So hatte er seinen Platz gefunden. Manchmal beobachtete er die Golfer aus seinem Versteck unter dem Schuppendach, von dem aus er über den Platz schauen konnte. Was waren das nur für Leute? Was taten sie? Und weshalb schauten sie oft so unglücklich aus?
Im Herbst musste der Clubmanager die meisten seiner Arbeiter wegschicken. Manche konnten sich arbeitslos melden, alle anderen mussten sehen, wo sie blieben. Josek durfte bleiben. Er sollte den Dachboden über dem Geräteschuppen ausbauen. Im Geräteschuppen war eine Werkstatt. Josek hatte alles, was er brauchte. Er hatte ein Dach über dem Kopf und bekam gutes Essen, aber er sehnte sich nach Marthe.
Eines Abends gelang es ihm, Marthe bei Freunden in der Heimat zu erreichen. Marthe weinte. Ob sie noch kommen solle? Er bejahte, wenngleich er nicht wusste, ob sie es schaffen würde. Geld konnte er ihr keins schicken.
»Ich werde auf dich warten«, sagte er.
»Josek«, sagte sie, »ich muss hier weg, ich bin schwanger.«
Er schluckte. »Wer?«
»Josek«, sagte Marthe, »das macht mir einen Kopf. Es gab keinen Mann bei mir, seit du weg bist.«
»Keinen Mann?«
»Josek, ich schwör’s!«
»Komm«, sagte er zu ihr. »Es wird sich alles finden.«
Dann wurde die Leitung unterbrochen.
Wochen später kam die Nachricht, Marthe würde Mitte Dezember auf dem Parkplatz eines Supermarktes in der Stadt eintreffen. Als es so weit war, sagte Josek zu Besnik:
»Ich muss weg, Kollege. Frau kommt. Ich komme zurück.«
Besnik nickte. Mit dem dicken Zimmermannsbleistift malte er eine Skizze auf einen Zettel.
»Hier ist die Stadt, Jo«, sagte er. »Und hier fährt der Bus, hier ist der Golfplatz.«
Ein Lieferant, der Baumaterial brachte, nahm Josek mit in die Stadt.
Drei Tage lang wartete Josek am vereinbarten Treffpunkt auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt. Er schlief auf dem Lüftungsschacht am Hintereingang, auf dem es erträglich warm war. Am Nachmittag des vierten Tages stand Josek an einem Imbiss. Der Mann am Tresen las in einer Zeitung. »Jesus wurde nicht in einem Stall geboren, sondern in einer Werkstatt«, sagte er laut und schien erstaunt. Josek nickte, aber er wusste nicht, was das bedeutete.
Wieder wurde es Abend, der Parkplatz leerte sich. Josek wollte gerade seinen Schlafplatz aufsuchen, als ein Transporter an der dunklen Seite des Parkplatzes hielt. Es blieb eine Weile still, dann öffneten sich die Fahrertüren und zwei Männer stiegen aus. Sie entriegelten die Hintertür. Langsam krochen gebückte Gestalten aus der Dunkelheit des Wagens und streckten sich. Dann sah er Marthe. Sie stieg langsam aus dem Wagen. Josek umarmte sie. Marthe verabschiedete sich von den anderen. Sie war dick und konnte nur langsam gehen. Sie brauchten eine Weile bis zur Bushaltestelle. Josek hatte den Zettel von Besnik in der Hand. Damit würden sie zum Club zurückfinden.
Der Clubmanager war in den Winterurlaub gereist. Die letzte Veranstaltung des Jahres würde von einer Event-Agentur und der Clubsekretärin betreut werden. Das traditionelle Weihnachtsturnier über 9 Loch mit Charity-Gala war die Idee dreier kooperierender Software-Firmen. Die vielen Singles und geschiedenen Mitarbeiter hatten dadurch die Möglichkeit, den Abend in fröhlicher Gesellschaft zu verbringen. Das hob die Produktivität, senkte die Selbstmordrate und optimierte die Vernetzung der drei Firmen untereinander.
Am 24. Dezember erwachten Josek und Marthe auf dem Dachboden über der Werkstatt. Er schaute aus dem Fenster. Es war überraschend viel Betrieb. Im Hof traf er auf Besnik.
»Was iss heute los? Viele Leute!«
»Se haben Ewänd.«
»Was iss Ewänd?«
»Schärrety Ewänd! Weiss nicht genau. Rennen durch de kalte Wind und kloppen de Bälle, um zu helfen arme Leute.«
»Wie uns?«
»Ah, nix wie uns. Uns geht’s gutt. Haben Arbeit und Bett!«
»Sind gute Mänsche, de Golfer«, sagte Josek bedächtig.
»Ja, sind gute Mänsche, etwas verrickt, aber gute Mänsche«, stimmte Besnik zu. »Und se haben drei Keenig dabei!«
»Haben Keenig? Yessas!«
»Yo, hab ich so verstanden. Sachte mir Etbin, de Kellner. Drei Branchen-Keenige von de Softwähr!«
»Yessas!« Josek machte sich auf, um Marthe von den seltsamen Königen zu berichten.
Weil es auf dem Dachboden zu kalt war, bettete Josek seine Marthe auf das alte Sofa, das in der Werkstatt neben dem Bullerofen stand. Er hielt ihre Hand und schaute sie liebevoll an.
»Du bist nicht böse?«
»Warum?«
»Wegen dem Kind.«
»Ich bin froh, dass du bei mir bist. Es wird unser Kind sein.«
Besnik kam mit seiner Frau. Sie begrüßten Marthe und brachten Essen.
»Wann ist es so weit?«
»Bald«, sagte Marthe.
»Was wird Manager sagen?«
»Wer ist Manager?«
»Is Scheffe«, sagte Josek. »Wird schimpfen.«
»Scheffe iss nich da«, sagte Besnik, »nur de gute Mänsche vom Schärrety Ewänd.«
Am Abend setzten die Wehen ein. Zwischen Traktor, Mähbalken, Aerifizierer und Vertikutiergerät gebar Marthe ihren Sohn. Besniks Frau half. Alles ging gut. Josek weinte.
Und so geschah es, dass Besnik es dem Etbin erzählte und Etbin erzählte es dem Sommelier Franco und der erzählte es dem Koch und der schickte ein großes Tablett mit guten Speisen. Der Koch erzählte es dem Barkeeper und der erzählte es der Eventmanagerin und sie erzählte es einem der drei Software-Könige, der gerade mit der Siegerehrung beginnen wollte, und so sprach er: »Verehrte Gäste, liebe Freunde, soeben ward uns in der Werkstatt ein Kind geboren!«
Die drei Software-Könige machten sich auf, die Werkstatt zu suchen, und Etbin, der Kellner, wies ihnen den Weg.
»Hinten am Geräteschuppen leuchtet hell wie ein Stern die große Flutlichtlampe. Sie können es nicht verfehlen.«
Die drei Software-Könige fanden Marthe mit ihrem neugeborenen Kind und überreichten ihr Geschenke: Eine Flasche Dom Pérignon von 1998 (Edition Karl Lagerfeld), Angel-Parfüm von Thierry Mugler, einen Pashmina-Schal von Anita Pavani und ein hübsches Sümmchen, das die Golfer gesammelt hatten. Es wurde ein schöner Weihnachtsabend. Sogar die Golfer lächelten und waren glücklich.
Tage später gab es Gerüchte. Plötzlich stand die Ausländerbehörde vor der Tür. Sie erwischten Besnik und seine Frau, die keine Aufenthaltserlaubnis hatten. Marthe, Josek und das Kind hielten sich den ganzen Tag auf dem Dachboden versteckt.
»Wir müssen fliehen«, sagte Marthe am Abend, als Josek gerade in den Werbebeilagen einer Zeitung die Windelpreise verglich.
»Fliehen?« Josek schaute in die Zeitung. »Hier! Wie wäre es mit Ägypten? Zehn Tage, alles inklusive, mit Silvester-Gala und Kamelreiten zum Superferien-Sparpreis!«
Marthe nickte und gab dem Jungen die Brust: »Klingt gut, auf nach Ägypten.«